«Ambulant statt stationär – das 'Zuhause-Altwerden-Modell' von Horgen»
Welches sind die aktuell grössten Herausforderungen im Thema «Alter»?
Der Bedarf nach Betreuung und Pflege wird aufgrund der demografischen Entwicklung längerfristig zunehmen. Umso wichtiger ist es, die entsprechenden Berufsbilder zu stärken, damit genügend Betreuungs- und Pflegepersonal zur Verfügung steht. Aber auch kostenseitig stehen wir vor grossen Herausforderungen: Die Gemeindebeiträge an die Pflegekosten sind in den letzten Jahren massiv gestiegen im Kanton Zürich. Hier setzen wir mit unserem Modell an, in dem wir versuchen, unnötige Heimeintritte zu verhindern. Das dritte Thema ist sicher der Wohnungsmarkt und ein altersgerechtes Angebot an preisgünstigen Wohnungen.
Können Sie das Konzept der Siedlungs- und Wohnassistenz (S&W) für Senior/-innen an in Horgen erläutern?
Das «Zuhause-Altwerden» zu unterstützen, ist das übergeordnete Ziel. Ob dieses möglich ist, hängt von verschiedenen Aspekten ab, z.B: die passende Wohnung, ausreichend Finanzen, Unterstützung im Alltag, soziale Kontakte, Mobilität, Sicherheit oder medizinische Versorgung. Der letzte Aspekt, die Pflege zuhause, ist durch das System der Spitex gut etabliert und abgedeckt. Die S&W kümmert sich – zusammen mit dem Team der Anlaufstelle Alter und Gesundheit – um alle anderen Themen.
Von Fall zu Fall wird abgeklärt, was nötig und sinnvoll ist. Die Beratungen sind für Senior/-innen sowie für deren Angehörige kostenlos. Hausbesuche sind dabei keine Seltenheit. Das Team gibt nicht einfach Broschüren und Telefonnummern ab, sondern gleist die Massnahmen auf, bis sie «sitzen». Es vernetzt die Helfenden: Nachbarn, die beim Einkauf oder beim neuen Telefon-Abo helfen, eine Coiffeuse, die Hausbesuche macht, das Krankenmobilienmagazin, das einen passenden Rollator beisteuert, das Involvieren der Psychospitex, die Anmeldung für einen Notrufknopf… Die Arbeit ist pragmatisch und umfassend. Manche Massnahmen sind dauerhaft, andere nur vorübergehend.
«Die meisten älteren Menschen wollen zu Hause in den eigenen vier Wänden leben, solange es die Gesundheit und die Umstände zulassen.»
Die Assistenz sorgt dafür, dass ältere Personen möglichst selbstständig und selbstbestimmt zuhause bleiben können. Weshalb ist dies wichtig?
Die meisten älteren Menschen wollen zu Hause in den eigenen vier Wänden leben, solange es die Gesundheit und die Umstände zulassen. Mit der Siedlungs- und Wohnassistenz unterstützen wir die Menschen dabei. Ein Heimeintritt wird erst ins Auge gefasst, wenn es wirklich nicht mehr geht. Als Gemeinde haben wir auch ein finanzielles Interesse daran, verfrühte Heimeintritte, vor allem auf den niedrigen Pflegestufen, zu verhindern.
Erreichen Sie Ihre Ziele?
Wir konnten in vielen Fällen durch entsprechende Stabilisierung der Wohn- und Lebenssituation einen Verbleib zu Hause teils über Jahre ermöglichen. Ich denke, wir sind gut unterwegs, was uns auch Reaktionen aus der Fachwelt und aus anderen Gemeinden zeigen. Grundsätzlich ist der Erfolg der Altersarbeit aber schwierig zu messen, weil er von vielen Faktoren abhängt. Denken Sie an das soziale Umfeld, altersgerechten und bezahlbaren Wohnraum, die Verfügbarkeit von Betreuungs- und Entlastungsangeboten etc. Und es gibt immer Unwägbarkeiten: Gerade im Alter treten häufiger gesundheitliche Probleme auf, welche die Situation mitunter von einem Tag auf den anderen komplett verändern.
Welche finanziellen Konsequenzen hat das Angebot?
Die Aufwände betreffen vor allem Personalkosten. Ein Teil des Angebots entspringt dem Gesetzesauftrag, eine bedarfs- und fachgerechte Pflegeversorgung sicherzustellen und die Bevölkerung zu informieren. Wir gehen mit unseren Angeboten jedoch weiter als es das Pflegegesetz verlangt und lassen uns das auch etwas kosten. Dies in der Überzeugung, dass es die Gemeinde am Ende des Tages finanziell günstiger kommt, wenn teure Heimaufenthalte durch eine Stärkung der vorstationären Altersarbeit vermieden werden können.
Welchen Handlungsbedarf sehen Sie für Horgen?
Es gibt mindestens zwei Handlungsfelder, die uns stark beschäftigen. Zum einen wollen wir, dass die Leute zu Hause alt werden können. Das benötigt häufig Betreuungsleistungen, die mit dem heutigen Finanzierungssystem nicht abgegolten werden. Dieses ist recht einseitig auf pflegerische Leistungen im ambulanten und stationären Bereich ausgerichtet. Das ist eine Herausforderung, mit der auch viele andere Gemeinden zu kämpfen haben. Zum anderen beschäftigt uns das Thema Wohnraum. Finanzschwache Senior/-innen stehen auf dem Wohnungsmarkt in Konkurrenz zu anderen Bevölkerungsgruppen und ziehen dort oft den Kürzeren. Das heisst, es benötigt Wohnraum spezifisch für diese Bevölkerungsgruppe. Hier sind wir als Gemeinde mit eigenen Alterssiedlungen sehr aktiv und streben bewusst Kooperationen mit privaten Akteuren an.
Haben Sie Anliegen, was der Bund im Bereich Hilfe und Betreuung im Alter leisten sollte?
Heute werden Betreuungsleistungen zu Hause nur unterstützt, wenn bereits ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen besteht. Sie werden jedoch nicht zur Berechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs herangezogen. Gerade Personen, die knapp über der Ergänzungsleistungsgrenze liegen, können sich somit Betreuungs- und Entlastungsangebote gar nicht leisten. Es benötigt eine Anerkennung und finanzielle Unterstützung der Betreuungsleistungen auch im ambulanten Bereich. Ebenfalls wichtig ist die Aufwertung der Berufsbilder Betreuung und Pflege. Der Arbeitsmarkt in diesem Segment ist unserer Erfahrung nach ausgetrocknet, man findet kaum Personal. Dabei hat das Betreuungs- und Pflegepersonal in den letzten Jahren Unglaubliches geleistet.
«Gerade Personen, die knapp über der Ergänzungsleistungsgrenze liegen, können sich somit Betreuungs- und Entlastungsangebote gar nicht leisten.»
Welche Herausforderungen im Bereich Alter erwarten Sie für die nächsten 20 Jahre für Ihre Stadt?
Wie eingangs erwähnt sehen wir den zunehmenden Bedarf nach Betreuung und Pflege aufgrund der demographischen Entwicklung als eine zentrale Herausforderung an. Begleitet werden diese Entwicklungen von einem Kostenwachstum, das die öffentliche Hand in den Griff kriegen muss. Und schliesslich ist es zentral, das Angebot an altersgerechten und preisgünstigen Wohnungen sicherzustellen. Hierfür müssen auch private Partner sensibilisiert und Kooperationen eingegangen werden.
Silvia Hunziker Rübel steht seit 1. Juli 2022 als Gemeinderätin von Horgen dem Ressort Gesellschaft vor. Beruflich setzt sie sich seit vielen Jahren in leitenden Positionen im Personalbereich mit neuen altersgerechten Beschäftigungsmodellen für die verschiedenen Generationen im Arbeitsleben auseinander. Politisch war sie als letzte Gemeinderätin von Hirzel, vor der Fusion mit Horgen, für das Ressort Bildung zuständig. Sie lebt mit ihrer Familie auf dem Hirzel.