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«Die gesamte Gesellschaft profitiert von einem hindernisfreien ÖV»

16. Februar 2023 – Bis Ende 2023 muss der ÖV gemäss Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) für Menschen mit Behinderungen nutzbar sein. Wie sieht es mit der Umsetzung ein Jahr vor Ablauf der Frist in der Stadt Bern aus? Marieke Kruit, Direktorin für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün (TVS), sagt im Interview: «Die Umsetzung ist eine Mammutaufgabe.»

Das BehiG verlangt, dass bis Ende Jahr (2023) die Anlagen des öffentlichen Verkehrs für Menschen mit Behinderungen selbstständig benutzbar sind. Ist die Stadt Bern auf Kurs diese Vorgaben zu erfüllen?

Bei den Markierungen für Sehbehinderte an den Haltestellen sind wir weitgehend auf Kurs. Für Gehbehinderte und Rollstuhlfahrerinnen steht vor allem die Erhöhung der Haltekanten im Vordergrund. Stand heute genügt etwa jede fünfte der gut 400 städtischen Tram- und Bushaltekanten den Anforderungen des BehiG. Wir sind – da müssen wir ehrlich sein – leider noch nicht am Ziel. Wir werden noch mehrere Jahre benötigen, bis alle Haltekanten angepasst sind. Das gilt allerdings auch für viele andere Städte und Gemeinden, was vor allem damit zu tun hat, dass auf nationaler Ebene erst seit 2014 eine allgemeingültige Vorschrift existiert, wie das BehiG im Verkehrsraum umzusetzen ist. Seither werden sämtliche Projekte nach diesen Vorgaben umgesetzt. Wir können allerdings nicht alle Haltestellen gleichzeitig umbauen, da dies den ÖV zu stark einschränken würde.

 

«Wir können nicht alle Haltestellen gleichzeitig umbauen»

 

Was ist aktuell in Planung?

In den vergangenen drei Jahren haben wir vier Pilothaltestellen hindernisfrei umgebaut und konnten dabei wichtige Erkenntnisse sammeln. Der flächendeckende Umbau der Haltestellen wird sowohl technisch wie auch finanziell herausfordernd. Gleichzeitig sind gerade in der Innenstadt auch denkmalpflegerische Aspekte zu berücksichtigen. Da, wo wir ohnehin Gleisanlagen, Werkleitungen oder den Strassenbelag sanieren müssen, können wir Synergien nutzen. Ab diesem Jahr nehmen wir darüber hinaus weitere knapp 100 Haltestellen in Angriff, für deren Anpassung eine gewisse Dringlichkeit besteht, die sich aber nicht im Perimeter eines anderen Projekts befinden. Doch nicht nur die Bus- und Tramhaltestellen werden in den kommenden Jahren umgebaut, auch Parks oder Lichtsignalanlagen wollen wir hindernisfrei umgestalten. Für diese bestehenden Anlagen sieht das Gesetz zwar keine zwingende Umsetzungspflicht vor. Wir wollen aber mehr tun als das Minimum und den ganzen öffentlichen Raum hindernisfrei gestalten.

 

Menschen mit Behinderungen müssen den ÖV selbstständig nutzen können: Was heisst das für Sie konkret in der Umsetzung?

Die ÖV-Haltestellen müssen grundsätzlich so ausgestaltet werden, dass alle Menschen autonom, also ohne Hilfsmittel und Hilfestellung einer anderen Person, ins Fahrzeug gelangen und dieses auch wieder verlassen können. Für Menschen mit Sehbehinderung muss der Einstiegsbereich auffindbar sein. Menschen mit Rollstuhl oder Rollator benötigen einen ebenerdigen Zugang zwischen Perron und ÖV-Fahrzeug. Das heisst konkret, dass die Kanten der Bushaltestellen auf 22 cm und der Tramhaltestellen auf 27 cm erhöht werden müssen. Die Erhöhung der Haltekanten zieht weitere bauliche Anpassungen nach sich. So kann es beispielsweise sein, dass Haltestellen verbreitert oder Wartehallen verschoben werden müssen, damit Menschen im Rollstuhl genügend Manövrierfläche haben. Zudem müssen die Busbuchten verlängert werden, damit es beim Einbiegen des Busses aufgrund der höheren Haltekanten nicht zu Schäden an der Karosserie kommt. Diese Massnahmen wirken sich oft auch auf Leitungen und Bauwerke im Untergrund aus, was grössere bauliche Eingriffe zur Folge hat.

 

Wie schwierig war es, die Umsetzung politisch durchzusetzen?

Politisch ist in der Stadt Bern die hindernisfreie Umgestaltung der ÖV-Anlagen und des öffentlichen Raums weitgehend unbestritten. Die Schwierigkeit liegt in deren Finanzierung - aber auch auf operativer Ebene. Die praktische Umsetzung stellt für unsere Angestellten und Auftragnehmer eine Mammutaufgabe dar.

 

«Die praktische Umsetzung stellt für unsere Angestellten und Auftragnehmer eine Mammutaufgabe dar. »

 

Was sind denn die grössten Herausforderungen für einen hindernisfreien ÖV?

Die besondere Herausforderung besteht darin, hindernisfreie Lösungen zu finden, die möglichst nicht den Interessen und Bedürfnissen anderer Anspruchsgruppen, wie beispielweise des Fuss- und Veloverkehrs, widersprechen. Auch müssen sie mit unseren Bemühungen, die Stadt hitzeverträglicher zu gestalten, vereinbar sein. Es ist deshalb unerlässlich, dass wir die Konzepte und Massnahmen breit abstützen. Dann dauert es vielleicht etwas länger, dafür haben wir am Schluss Lösungen, die auch nachhaltig Bestand haben.

 

Wie verläuft die Zusammenarbeit mit den Behindertenorganisationen?

Die Zusammenarbeit ist eng und erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Ein regelmässiger Austausch über die konkreten Massnahmen und die Priorisierung bei der Umsetzung erfolgt insbesondere im Rahmen der Arbeitsgruppe öffentlicher Raum, in der verschiedene Behindertenorganisationen vertreten sind. Ebenfalls punktuell beigezogen werden die Fachleute der Firma «Sensability – Expertise für Inklusion».

 

Welche gesellschaftliche Dimension hat ein hindernisfreier ÖV?

Ich bin überzeugt, dass die gesamte Gesellschaft von einem hindernisfreien ÖV profitiert. Neben Personen mit Kinderwagen oder schwerem Gepäck sind die Anpassungen insbesondere auch für ältere Menschen, die nicht mehr so gut zu Fuss sind, wichtig. Dieser Mehrwert ist nicht zu unterschätzen, wenn wir die demografische Entwicklung betrachten. Die hindernisfreie Anpassungen im ÖV und im ganzen öffentlichen Raum sind auch ein wichtiges Zeichen. Wir zeigen damit, dass wir eine Stadt sein wollen, in der es für alle sicher ist und wo sich alle selbstständig fortbewegen können. Das hat einen stark inklusiven Charakter, der auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlt.

 

Marieke Kruit wurde am 1. Januar 2021 in den Gemeinderat der Stadt Bern (Exekutive) gewählt. Seither steht sie der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün vor. Zuvor sass sie während sieben Jahren im Stadtrat (Parlament). Marieke Kruit ist Psychologin und Psychotherapeutin (lic. phil.) und hatte vor der Wahl in die Stadtberner Regierung Leitungsfunktionen bei den Psychiatrischen Diensten Oberaargau und Thun inne.

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