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Und die nächsten 175 Jahre? – Die Schweiz als Stadt

30. August – Was ist überhaupt eine Stadt? Ist die Schweiz auf dem Weg zu einem Stadt-Konzept? Und wie würde eine «Stadt-Schweiz» aussehen? Wie wird sich die Demokratie entwickeln? Nenad Stojanović, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Genf, wagt im letzten Teil unserer Textserie «175 Jahre Bundesverfassung – die Rolle der Städte» einen Ausblick auf die städtische Schweiz – oder die Stadt-Schweiz?

Autor: Nenad Stojanović, SNF-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Genf; alt Stadtparlamentarier von Lugano.

 

Wer über die Schweiz und die Schweizer Städte in den nächsten 175 Jahren nachdenkt, muss sich zunächst fragen, was eine Stadt ist. Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, etwas Abstand zu gewinnen, aus unserer schweizerischen Sichtweise herauszutreten und die Perspektive zu wechseln. Wer für eine gewisse Zeit in einer der grossen Städte der Welt gelebt hat - von Buenos Aires bis Tokio, von Paris bis London, von New York bis Mexiko-Stadt - kann nicht umhin zu grinsen, wenn wir eine Gemeinde wie Biel oder Lugano als «Stadt» bezeichnen.

 

Versuchen Sie einmal, sich in einer dieser Metropolen von einer Ecke in die andere zu bewegen. Im Grunde genommen haben Sie die Wahl, im Verkehr stecken zu bleiben, falls Sie das Taxi oder Ihr eigenes Auto benutzen, oder in der Metro wie Sardinen zusammengepfercht zu reisen. Und in jedem Fall brauchen Sie mindestens ein bis zwei Stunden, um an sein Ziel zu gelangen. In dieser Zeit kann ein Einwohner der «Stadt» Bern die «Städte» Freiburg (21'), Biel/Bienne (26'), Neuenburg (34'), Basel (56'), Zürich (56'), Luzern (61'), Brig (64') oder Lausanne (66') bequem mit dem Zug erreichen. Auch Winterthur, Genf und St. Gallen sind in weniger als zwei Stunden erreichbar. Mit dem Ausbau des Bahnnetzes werden sich diese Distanzen in den nächsten Jahrzehnten noch weiter verkürzen.

 

Eine Bernerin (aber das gilt auch für die Bewohnerinnen und Bewohner der anderen Städte des Mittellands) kann deshalb heute problemlos nach der Arbeit ins KKL nach Luzern, ins Theater nach Zürich oder ins Stadion nach Lausanne gehen und spätabends nach Hause kommen. Sie kann auch im Naturpark Entlebuch oder an der Seepromenade in Neuenburg spazieren gehen, wie ein Bewohner von Brooklyn im Central Park.

 

Ein weiteres Phänomen ist das Pendeln – also Personen, die aus beruflichen Gründen täglich von einer Stadt in eine andere ziehen. Laut offiziellen Statistiken sind mehr als 3,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz Pendler (Bundesamt für Statistik 2023). Davon wohnen rund 20 Prozent in einem Kanton und arbeiten in einem anderen (1990 waren es 12 Prozent). Darüber hinaus erlauben immer mehr Arbeitgeber ihren Angestellten die Zeit, die sie im Zug am Computer verbringen, als Arbeitszeit anzurechnen. Versuchen Sie einmal, in der Pariser statt in der Mailänder Metro zu arbeiten.

 

«Die Schweiz ist im Leben bereits eine Grossstadt»

 

Mit anderen Worten: Im Leben vieler Menschen ist die Schweiz bereits eine Grossstadt. Sie ist polyzentrisch und mehrsprachig, eine echte Metropole mit einem eigenen Beziehungsnetz und einer starken Identität, die eng mit der Entstehung der Idee der «Schweizer Nation» ab dem 19. Jahrhundert verbunden ist (Helbling und Stojanović 2011).

 

Auf dem Weg zum «Stadt Schweiz»-Konzept?

Im Tessin wird das Konzept der «Città-Ticino» seit den 1980er Jahren gefördert (Ferrata 2022). Im Jahr 2009 fand dieses Konzept sogar Eingang in den neuen kantonalen Richtplan als neues «Raummodell» (Sezione dello sviluppo territoriale 2009). Seit 2012 ist er auch im neuen Raumkonzept Schweiz enthalten, das vom Bundesrat, den Kantonen, dem Schweizerischen Städteverband und dem Schweizerischen Gemeindeverband erarbeitet wurde (Schweizerischer Bundesrat et al. 2012).

 

Wie würde sich die Schweiz in den nächsten 175 Jahren entwickeln, wenn das Konzept «Stadt-Schweiz» aktiv gefördert würde? Wenn dieses Konzept, das für viele bereits Realität ist, in den Köpfen und politischen Richtlinien Einzug halten würde? Eine solche Entwicklung könnte - aber das ist nur ein Beispiel von vielen - dazu führen, dass das Projekt «Swissmetro» wieder aufgegriffen wird.

 

Dennoch ist es unrealistisch zu glauben, dass die Idee der «Stadt-Schweiz» - vorausgesetzt, sie ist förderungswürdig - in den nächsten Jahrzehnten einen leichten Stand haben wird. Zu gross sind die Widerstände der bestehenden institutionellen und verbandlichen Strukturen, die in einem solchen Konzept eine Gefahr für ihre Rolle und ihren Einfluss im gegenwärtigen politischen System der Schweiz sehen würden. Diese Widerstände, die ja ziemlich vorhersehbar sind, hängen nämlich eng mit bestimmten Entscheidungen aus dem Jahr 1848 zusammen. Damals waren sie visionär, heute aber stellen immer mehr eine Bremse für diejenigen dar, die eine Vision für die Schweiz in den nächsten 175 Jahren entwickeln wollen.

 

Die digitale Ghettoisierung und die Demokratie der Auslosung

Aber wie oft geht ein Bewohner des Bobo-Quartiers Länggasse (der fortschrittlichste Stadtteil Berns, aber gleichzeitig derjenige mit dem geringsten Ausländeranteil) nach Bümpliz (ein Arbeiterviertel mit hohem Ausländeranteil)? Wie oft sprechen wir mit Menschen, die nicht zu unserer Bubble gehören? Das heisst, mit Menschen, die nicht in unserem Quartier wohnen, die nicht unser Bildungsniveau haben, die nicht unsere Sprache(n) sprechen, die nicht dieselbe Partei wählen (falls sie überhaupt wählen), die nicht in unsere Bars gehen? Paradoxerweise können die Digitalisierung und die Nutzung sozialer Medien zwar den Austausch erleichtern, verstärken aber oft die digitale Ghettoisierung, da die Menschen dazu neigen, sich in virtuellen Räumen mit denjenigen zu treffen, die in Bezug auf ein bestimmtes Thema (man denke an die jüngste Pandemie) ähnlich denken wie sie.

 

Eine der Herausforderungen, vor denen wir stehen, besteht also darin, neue Wege zu finden, um Menschen in unterschiedlichen physischen und virtuellen Räumen zu treffen.

 

1848 liessen sich die Schöpfer der modernen Schweiz von den Vereinigten Staaten inspirieren und führten ein Zweikammerparlament ein. Rund 50 Jahre später liessen sich mehrere amerikanische Bundesstaaten, darunter auch Oregon, von der direkten Demokratie in der Schweiz inspirieren und führten Referenden in ihr politisches System ein. Glücklicherweise reisen Ideen und Lösungen rund um die Welt.

 

Im Rahmen des Demoscan-Projekts (www.demoscan.ch) haben wir uns 2019 von Oregon (Citizens' Initiative Review) inspirieren lassen, um in der Schweiz zufällig ausgeloste Bürgerräte zu organisieren. Dank dem Losverfahren - einer Auswahlmethode, die bereits im antiken Griechenland, aber auch in verschiedenen Schweizer Städten und Kantonen im 17. und 18. Jahrhundert (Bern, Genf, Glarus, Sion, Yverdon...) angewandt wurde - erhalten wir eine Gruppe «normaler» Bürgerinnen und Bürger, die aus verschiedenen Horizonten (bzw. Bubbles) stammen. Vier Tage lang debattieren sie über ein aktuelles politisches Thema und verfassen einen Bericht, der an ihre Mitbürger, aber auch an die politischen Behörden geschickt wird.

 

Wie es der Zufall will, haben sich in den letzten vier Jahren zahlreiche Städte für die Verlosung und diese neue Art, «Politik zu machen», interessiert: man denke nur an die experimentellen Bürgerräte in Bellinzona, Winterthur, Sitten, Lausanne, Uster. Im Ausland institutionalisieren immer mehr Städte das Losverfahren und die Bürgerräte: Aachen, Brüssel, Madrid, Paris... Ich mag keine Vorhersagen machen, aber ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die gleiche Entwicklung in den Schweizer Städten zu beobachten ist. Auf diese Weise hätten jedes Jahr hunderte Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, partizipative und deliberative Demokratie zu praktizieren, indem sie mit Menschen ausserhalb ihrer Blase in Dialog treten und gemeinsame Lösungen suchen. Dies stärkt den Dialog und die Demokratie selbst.

 

Literatur:

  • Bundesamt für Statistik (2023): Pendlermobilität im Jahr 2021. Strukturerhebung. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. 
    von https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/mobilitaet-verkehr/personenverkehr/pendlermobilitaet.html
  • Helbling Marc und Nenad Stojanović (2011): Switzerland: challenging the big theories of nationalism. Nations and Nationalsim 17 (4), 712-717
    von https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1469-8129.2011.00516.x : https://doi.org/10.1111/j.1469-8129.2011.00516.x
  • Ferrata, Claudio (2022): Fare la Città Ticino. Una metafora geografica per il territorio. Bellinzona: GEA-associazione dei geografi 
    von https://www.gea-ticino.ch/wp-content/uploads/farelacitta-ticino.pdf
  • Sezione dello sviluppo territoriale (2009): Revisione del Piano direttore cantonale. Rapporto esplicativo 2009. Consiglio di Stato della Repubblica e Cantone Ticino  
    von https://www4.ti.ch/fileadmin/DT/temi/piano_direttore/rapporto_esplicativo/00_Rapporto_completo.pdf
  • Schweizerischer Bundesrat, KdK, BPUK, SSV, SGV (2012): Raumkonzept Schweiz. Überarbeitete Fassung, Bern.
    von https://raumkonzept-schweiz.ch/bibliothek/raumkonzept-zum-download

Nenad Stojanović ist SNF-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Genf und alt Stadtparlamentarier von Lugano.

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