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«Und er bewegt sich doch…» – Der Schweizer Föderalismus und die Städte

16. August – Bessere Rechtsstellung der Städte und Agglomerationen? Anpassung der Kantonsgrenzen? Zahlreiche Vorschläge, den Föderalismus zu reformieren, wurden in der Vergangenheit diskutiert, aber immer abgelehnt. Vielversprechender sei Kooperation und Koordination, schreibt Daniel Kübler, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich und Direktionsmitglied des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) in der Textserie «175 Jahre Bundesverfassung und die Rolle der Städte».

Autor: Daniel Kübler, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich und Direktionsmitglied des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA).

 

Für die Schweizer Städte war die Gründung des Bundesstaates vor 175 Jahren eine ambivalente Sache. Einerseits wurde damit der lange Kampf der liberalen städtischen Eliten für ein modernes demokratisches Staatswesen und einen einheitlichen Wirtschaftsraum von Erfolg gekrönt. Andererseits wurden die Städte im neuen Staatswesen weitgehend ihrer Sonderstellung beraubt. Indem sie zu Gemeinden «degradiert» wurden, war ihre mehr oder weniger ruhmreiche Geschichte als dominante Herrschaftsorte erst einmal zu Ende.

 

Spannungen im föderalistischen Gebälk

Der schweizerische Föderalismus macht keinen Unterschied zwischen den Einheiten auf der untersten Staatsebene. Die grösste Gemeinde – die Stadt Zürich mit ihren knapp 450'000 Einwohnerinnen und Einwohnern – und die kleinste Gemeinde – aktuell der 32-Seelen-Ort Kammersrohr (SO) – sind einander verfassungsrechtlich gesehen ebenbürtig. Das ist heute nicht anders als bei der Gründung des Bundesstaates vor 175 Jahren. Aber ist dieser Grundsatz heute noch angemessen?

 

Die städtischen Gebiete haben in der Schweiz massiv an Bedeutung zugenommen, besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Bevölkerung der Städte ist gewachsen, die städtischen Siedlungsgebiete haben sich ausgebreitet. Heute leben 84% der Bevölkerung in Städten und Agglomerationen (Bundesamt für Statistik 2014). Auch in wirtschaftlicher Hinsicht hat das Gewicht der städtischen Regionen zugenommen. Nahezu zwei Drittel des Bruttoinlandproduktes werden mittlerweile in den drei wichtigsten urbanen Grossräumen (Zürich, Genf-Lausanne und Basel) erwirtschaftet, die zusammen aber nur 10 Prozent der Landesfläche ausmachen (Müller-Jentsch 2011).

 

«Die Schweiz ist zum 'Stadtland' geworden»

 

Die Schweiz ist definitiv zum «Stadtland» (Eisinger und Schneider 2003) geworden. Und die traditionellen Strukturen des Föderalismus scheinen, je länger, je mehr, quer in dieser Stadtlandschaft zu liegen. Das betrifft nicht nur die Sitzverteilung im Ständerat oder die Stimmenzahl beim Ständemehr, dank denen die bevölkerungsarmen, peripheren Kantone grösseres Gewicht haben als die städtischen Kantone des Mittellandes. Auch die Kantonsgrenzen werden zunehmend als Problem wahrgenommen: Agglomerationen erstrecken sich oftmals über mehrere Kantone und die interkantonale Koordination – etwa beim öffentlichen Verkehr, bei der Raumplanung oder der Wirtschaftsförderung – ist mit grossem Aufwand verbunden.

 

Grundlegende Reformen: «Mission Impossible»

Angesichts dieser Entwicklungen wurden immer wieder Vorschläge gemacht, die grundlegenden Strukturen des Schweizer Föderalismus anzupassen.

 

Einige dieser Vorschläge zielen auf eine Verbesserung der Rechtsstellung der Städte und Agglomerationen, um diesen in der Bundespolitik mehr Gewicht zu geben. Im Kanton Zürich etwa wurde 2008 die Einreichung einer Standesinitiative diskutiert, welche die Einrichtung eines Städtereferendums auf Bundesebene verlangt – analog zum bereits heute existierenden Kantonsreferendum. Und mit einer Parlamentarischen Initiative im Jahre 2010 verlangte Nationalrat Hans-Jürg Fehr, dass Städten mit mehr als 100'000 Einwohnern der Status eines Halbkantons mit den entsprechenden Rechten einzuräumen sei. Beide Vorschläge, wie auch weitere, ähnlich gelagerte, waren politisch chancenlos.

 

Andere, weitaus zahlreichere Vorschläge zielen auf eine Anpassung der Kantonsgrenzen. So wurde etwa die Fusion von Luzern, Nidwalden, Obwalden, Schwyz und Zug zu einem «Kanton Zentralschweiz» angeregt, die Schaffung eines «Kantons Nordwestschweiz», oder die Fusion von Waadt und Genf zu einem «Canton du Léman» (Neugebauer 2000). Prominent stellte auch der ehemalige Direktor des Bundesamts für Raumentwicklung Überlegungen zu einer grundlegenden Neuordnung der Kantone in verschiedenen Fusionsszenarien an (Rumley 2010). Auch solchen Vorschlägen war kein Erfolg beschieden. Zwei Volksinitiativen zur Fusion der beiden Kantone Waadt und Genf scheiterten 2002 krachend an der Urne: mehr als drei Viertel der Stimmenden lehnten sie ab (77% Nein im Kanton Waadt, 80% Nein im Kanton Genf). Und auch die vergleichsweise bescheidenere und verfassungsrechtlich wesentlich unkompliziertere Fusion der beiden Basel scheiterte 2014 an der Skepsis der Stimmberechtigten von Baselland. Es war dies der mittlerweile dritte erfolglose Anlauf für eine Wiedervereinigung der beiden Basler Halbkantone. Die Kantone haben ganz offensichtlich eine identitätsstiftende Wirkung, weswegen ihre Grenzen nicht einfach so neu gezogen werden können.

 

 «Die Kantone haben ganz offensichtlich eine identitätsstiftende Wirkung.»

 

Diese Erfahrungen zeigen: Reformen der Grundstrukturen des schweizerischen Föderalismus sind eine «Mission Impossible». Denn letztlich sind Ungleichgewichte in der Stimmkraft der einzelnen Kantone und ihrer Stimmbürgerschaften einer föderalen Staatsorganisation inhärent (Waldmann 2018). Und weil die föderalistischen Strukturen diejenigen Akteure schützen, welche von diesem Ungleichgewicht profitieren, werden so schnell auch keine politischen Mehrheiten für eine Änderung dieser Strukturen zu finden sein. Sich mit grundlegenden Reformen des Schweizer Föderalismus zu beschäftigen, ist deshalb Zeitverschwendung.

 

Vielversprechender: Kooperation und Koordination

Das Gewicht der Städte und der städtischen Gebiete in der Bundespolitik hat sich seit der Jahrtausendwende trotzdem wesentlich verbessert. Bereits Mitte der 1990er Jahre anerkannte der Bundesrat im Raumordnungsbericht, dass das Wohlergehen der Schweiz entscheidend davon abhängt, dass ihre Agglomerationen im internationalen Standortwettbewerb mithalten können. Auf der Grundlage des neuen Städteartikels in der 1999 revidierten Bundesverfassung (Art. 50 BV) entwickelte der Bund die Agglomerationspolitik, mit welcher er nun seit mehr als zwanzig Jahren zur Verbesserung der Infrastruktur in den Städten und Agglomerationen beiträgt. Die neue Lausanner Metro, die Eisenbahn-Durchmesserlinie in Zürich, das Tram Bern West, die Stadtbahn Zug oder die Tramlinie Cornavin-Onex-Bernex sind die bekanntesten Projekte, welche im Rahmen der Agglomerationspolitik realisiert werden konnten.

 

Dabei beruht der Erfolg der Agglomerationspolitik aber nicht auf der Schaffung von neuen Strukturen im Föderalismus, sondern auf der Verbesserung der Beziehungen zwischen den existierenden Institutionen. Die Eckpfeiler der Agglomerationspolitik - Agglomerationsprogramme, Tripartite Konferenz, Modellvorhaben, Projets urbains, Programm Nachhaltige Quartiere – setzen allesamt eine Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Kantonen und Bund voraus. Sie funktionieren dank dem guten Willen aller Beteiligten und dem gegenseitigen Vertrauensverhältnis, das sich im Laufe der Jahre herausgebildet hat.

 

Die Agglomerationspolitik zeigt exemplarisch die Bedeutung des kooperativen Föderalismus in der Schweiz, welcher auf einer freiwilligen, konstruktiven und pragmatischen Zusammenarbeit von Behörden auf allen drei Staatsebenen aufbaut. Diese Zusammenarbeit ist der Schlüssel zur erfolgreichen Anpassung des Föderalismus an die aktuellen Gegebenheiten und Herausforderungen. Somit wird klar, dass vermeintlich grosse Würfe – etwa ein Umbau von Ständerat und Ständemehr oder die Neuziehung von Kantonsgrenzen – nicht nur chancenlos sind, sondern auch weitgehend unnötig.

 

Literatur:

  • Bundesamt für Statistik (2014): Raum mit städtischem Charakter 2012. Erläuterungsbericht. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.
  • Eisinger, Angelus und Michel Schneider (Hrsg.)(2003): Stadtland Schweiz. Basel: Birkhäuser.
  • Müller-Jentsch, Daniel (2011): Metropolitanregionen und potenzialarme Räume. Die beiden Pole der regionalen Wirtschaftsentwicklung. Die Volkswirtschaft 2011(5), 12-15.
  • Neugebauer, Gregory (Hrsg.)(2000): Föderalismus in Bewegung - wohin steuert Helvetia? Zürich und Frauenfeld: Ebner und Huber.
  • Rumley, Pierre-Alain (2010): La Suisse demain! De nouveaux territoires romands. Un nouveau canton du Jura: utopie ou réalité? Fleurier: Editions du Belvédère.
  • Waldmann, Bernhard (2018): Perspektiven des schweizerischen Föderalismus. In: Diggelmann, Oliver, Maya Hertig und Benjamin Schindler (Hrsg.) Verfassungsrecht der Schweiz / Droit constitutionnel suisse. Zürich: Schulthess, 797-815.

Daniel Kübler ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Zürich und Direktionsmitglied des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA).

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