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Die Rolle der Stadt Genf bei der Entwicklung der «humanitären Schweiz»

23. August – In der Schweiz ist die Stadt Genf nicht nur für ihre Genfereien bekannt, sondern auch für ihre weltweite Ausstrahlung. Getragen und symbolisiert wird letztere durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das 1862 von fünf Genfer Bürgern gegründet wurde. Auf den ersten Blick hat diese Gründung weder mit der Schweizerischen Verfassung von 1848 zu tun ... noch mit der Winzigkeit des Kantons, dessen Hauptort ein Abbild davon ist.

Autorin: Irène Herrmann, ordentliche Professorin für transnationale Geschichte der Schweiz an der Universität Genf

 

Erstens existiert dabei eine zeitliche Unvereinbarkeit, da die Ausarbeitung dieses grundlegenden Dokuments etwa 15 Jahre vor der Gründung der humanitären Institution erfolgte. Zweitens besteht zwischen den beiden eine wesentliche Diskrepanz in Bezug auf die Wertvorstellungen. Denn Artikel 57 des Grundgesetzes von 1848 präzisiert das Asylrecht, d.h. die Aufnahme von Flüchtlingen durch die Kantone, während sich das IKRK um Opfer ausserhalb des Staatsgebietes kümmert. Schliesslich steht die schweizerische Neutralität, die als offizielles Mittel zur Wahrung der Unabhängigkeit des Landes im Text verankert wurde, im Widerspruch zur von den Genfern befürworteten Aktion, die eben gerade darauf abzielt, in landesexternen Kriegsgebieten zu intervenieren. Und dennoch…

 

Die Verfassung ratifizierte den Sieg der Freisinnigen über die Konservativen. In Genf festigte sie die Position der politischen Elite, die 1846 durch eine Revolution an die Macht kam, nachdem eine von den grossen Genfer Familien unterstützte reaktionäre Regierung abgesetzt worden war. Die Vertreter dieses sozialen Milieus, das nunmehr seiner politischen Vormachtstellung beraubt war, versuchten sodann Geschäftsfelder zu erschliessen, die sie wieder in ihrer früheren Bedeutung etablieren könnten. Da ihnen sowohl die kantonale wie die nationale Ebene von nun an verboten schien, konzentrierten sie sich auf die internationale Sphäre, die notabene ein durch ihre Vorgänger gut erforschter Tätigkeitsbereich war. Denn bevor die Stadt am Ende des Genfersees 1814/1815 in die schweizerische Eidgenossenschaft aufgenommen wurde, war sie ein winziger Konfetti-Staat, geschützt vor möglichen Angreifern dank seinem europäischen Ruf.

 

Voltaire und Rousseau: Untrennbar mit Genf verbunden

Dieser Glanz geht im Grunde hauptsächlich auf die Reformationszeit zurück. Denn damals wirkte der Ruhm von Johannes Calvin als Gegengewicht zur territorialen Bedeutungslosigkeit der Stadt, die einzig aus einer Vorstadt und einigen Besitztümern rundherum bestand. Im 18. Jahrhundert waren zwei der berühmtesten Wortführer der Aufklärung – Voltaire und Rousseau – mit dem Namen Genf untrennbar verbunden. Nach der napoleonischen Zeit, als Genf der Eidgenossenschaft zugeteilt wurde, setzten einige seiner Bürger ihr Engagement und ihre Investitionen jenseits der Landesgrenzen fort. So unterstützte der Bankier Gabriel Eynard das christliche Griechenland in seinem Kampf gegen das muslimische Osmanische Reich. Diese «protohumanitäre» Philanthropie stand nicht im Widerspruch zum lokalen Asylrecht, sondern ergänzte es im Namen von als universell angesehenen Werten. Das IKRK bettet sich daher in eine lokale Tradition und in ein lokales Substrat ein, mit welchen die Gebote, die sich die Schweizer 1848 für sich selbst definiert hatten, nicht unstimmig sind.

 

«Damals erkannten sie, dass die Grossmächte des Kontinents im Falle eines Angriffs auf die Schweiz nicht für deren neutrale Haltung Partei ergreifen würden. Es galt also, aus diesem geopolitischen Status Nutzen zu ziehen: Die humanitäre Hilfe war das Mittel dazu.»

 

Nutzen aus geopolitischem Status

Damit die Organisation und ihr Wirken von Dauer sein konnten, musste diese Vereinbarkeit in Bern dennoch erst offiziell anerkannt werden. Es war der Grundsatz der Schweizer Neutralität, der dem Internationalen Komitee auf kontraintuitive Weise zu seiner Wirksamkeit verhalf. Obwohl die Schweizer Behörden die Entstehung des Komitees mit Gleichgültigkeit beobachtet hatten, setzten sie sich ab der Wende der 1860er und 1870er-Jahre immer stärker für das Komitee ein. Damals erkannten sie, dass die Grossmächte des Kontinents im Falle eines Angriffs auf die Schweiz nicht für deren neutrale Haltung Partei ergreifen würden. Es galt also, aus diesem geopolitischen Status Nutzen zu ziehen: Die humanitäre Hilfe war das Mittel dazu. Das stark von Genf geprägte IKRK wurde als Beweis für die Dienste dargestellt, welche die Eidgenossenschaft an die kriegführenden Staaten leisten kann. Noch besser: Es zeigte auf, dass die westlichen Nationen die Barbarei des Krieges überwunden haben und die sogenannt «primitiven» Regionen der Welt zivilisieren - sprich kolonisieren - können.

 

Die mächtigen Nachbarstaaten der Eidgenossenschaft spürten also, dass sie ein doppeltes Interesse daran hatten, die Ziele der Institution zu unterstützen. Und dies nicht nur als nationalistische Staaten, die bereit waren, zur Festigung ihrer Position Expansionskriege auszulösen, sondern auch mit dem Ziel, ihr Gewissen gegenüber der restlichen Welt zu beruhigen, die sie im Namen des Fortschritts der Menschheit in Ketten legten. Dieser Mechanismus verdeutlicht die Motivation der Kolonialmächte, das humanitäre Hilfswerk der Genfer und die Schirmherrschaft, die ihr durch die Schweizer Behörden erteilt wurde, zu unterstützen. Bald inszenierten sie sogar eine Gleichsetzung des Roten Kreuzes mit dem Weissen Kreuz, obwohl die Gründung des ersteren ursprünglich aus Widerstand zum politischen Regime erfolgte, welches durch letzteres symbolisiert wird. Und obwohl die Opfer, um die sich beide kümmerten, sowie die Neutralität, auf die sich beide beriefen, wenig gemeinsam hatten.

 

IKRK: Bindeglied in einer ambivalenten Beziehung

Das humanitäre Hilfswerk profiliert sich somit als ein massgebendes Phänomen bei der Umwandlung Genfs in einen entscheidenden Mitgestalter der Schweizer Politik und des Zusammenhalts der Schweiz. Dies obwohl sich die unparteiische Hilfe an Kriegsverletzte ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, den durch die Schweizer Zugehörigkeit vorgegebenen nationalen Rahmen zu sprengen und die Kleinheit des Stadtstaates zu kompensieren. Die Position des IKRK ist somit jene eines Bindegliedes in einer ambivalenten Beziehung, wie dies die Genfereien, für welche die Stadt am Ende des Sees bekannt ist, immer wieder in Erinnerung rufen.
 

Irène Herrmann ist ordentliche Professorin für transnationale Geschichte der Schweiz an der Universität Genf

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