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Das bewegt die Städte – Das Behindertengleichstellungsgesetz

19. Februar 2024 – Menschen mit Behinderungen werden noch immer stark benachteiligt. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) trat vor 20 Jahren in Kraft. Es verlangt unter anderem, dass der ÖV seit diesem Jahr autonom benutzt werden kann. In der Pflicht stehen der Bund, die Kantone, Städte, Gemeinden und Transportunternehmen. Die fristgerechte Umgestaltung von Haltestellen wurde nicht überall erreicht. Das bewegt die Städte.

In der Schweiz leben 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen, was 20% der Bevölkerung entspricht. Laut eines Berichts des Bundesamtes für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2021, gehen fast drei Viertel einer Arbeit nach. Davon fühlen sich vier Fünftel stark von Gesellschaft ausgeschlossen, insbesondere auf dem ersten Arbeitsmarkt und in der Mobilität. Mindestens 433 von 1800 Bahnhöfen sind gemäss einer Übersicht des Bundesamts für Verkehr (BAV) nicht BehiG-konform. Autonome Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln impliziert, dass Menschen mit Behinderungen selbstständig reisen können, so dass flexibles und spontanes Reisen möglich wird. Bei der Sanierung von Haltestellen verweisen Transportunternehmen vermehrt auf die Komplexität. Enge Platzverhältnisse in dicht besiedelten Städten sind oft eine Herausforderung, die Finanzierung ist anspruchsvoll und unklare Voraussetzungen für einen hindernisfreien Zugang erschwerten zu Beginn zudem die Umsetzung von Bauvorhaben. (Bieler Tagblatt, 4.1.24; Luzerner Zeitung, 10.1.; Le Temps, 19.1.; Rundschau Süd, 25.1.).

 

Innerhalb der letzten 20 Jahre konnten die nötigen Erfahrungen in der Sanierung von Haltestellen gesammelt werden. Technisch anerkannte Normen zur hindernisfreien Ausgestaltung von Haltestellen wurden erprobt und beispielsweise der Standard einer 22 cm hohen Haltekante entwickelt. Mit der Erhöhung der Haltekanten werden Haltestellen ebenerdig, was autonomes Ein- und Aussteigen mit Rollstuhl ermöglicht. Die Anzahl der zu sanierenden Bahnhöfe der SBB stieg aufgrund von technischen Normen von 150 auf 400. Laut der SBB nutzen heute 80% ihrer Fahrgäste einen barrierefreien Bahnhof und sie schätzt die ausstehenden Kosten der Sanierungen auf ungefähr 2,5 Milliarden. (La Liberté 12.1.; Der Landbote, 18.1.; Aargauer Zeitung, 23.1.; Rundschau Süd, 25.1.; Le Temps, 26.01.).

 

Behinderungen im Zugang zum Arbeitsmarkt

Die manchmal gestellte Frage nach der Verhältnismässigkeit der Kosten von Inklusionsmassnahmen lässt ausser Acht, dass Menschen mit Behinderungen auch auf dem Arbeitsmarkt behindert werden, wenn sie nicht selbstständig mit dem ÖV pendeln können. Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil für Lebenszufriedenheit und Menschen werden dadurch definiert. Einer Anstellung nachzugehen, ermöglicht Betroffenen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, das Beziehungsnetzwerk zu vergrössern und mit neuen Herausforderungen konfrontiert zu werden. Zugang zum Arbeitsmarkt ist dementsprechend essenziell. (Le Temps, 19.1.24; Bieler Tagblatt, 4.1.).

 

Ersatzmassnahmen sind nicht Gesetzeskonform

Behindertenorganisationen können seit Jahresbeginn ihre Rechte einklagen. Verkehrsbetriebe müssen an Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, welche nicht autonom nutzbar sind, Ersatzmassnahmen anbieten. Dazu gehören Hilfestellungen des Personals oder Shuttle-Fahrdienste, wofür Gemeinden und Kantone die Kosten tragen. Der Shuttle-Dienst, der zwei Stunden vor der Reise angerufen werden muss, fährt reisende zum nächstgelegenen hindernisfreien Bahnhof und Hilfeleistungen durch Personal beinhalten Einstiegshilfen. Die Ersatzmassnahmen sind nicht gesetzeskonform und nur temporär. Denn autonomes Reisen ist unmöglich, wenn man die Nutzung eines Shuttle-Dienstes Stunden vor Reiseantritt anmelden muss. (Luzerner Zeitung,10.1.24; La Liberté, 12.01.; BZ Basel, 13.1; Der Landbote, 18.1.; Le Journal du Jura, 23.1.; Rundschau Süd, 25.1.; Aargauer Zeitung, 27.1.; Freiburger Nachrichten, 30.1.).

 

Die Städte kommen voran, aber langsam

Bislang ist schweizweit ein Drittel aller Bus- und Tramhaltestellen barrierefrei ausgebaut. Die Gemeinden tragen die Kosten für Haltestellen auf ihren Strassen, was für solche mit vielen Haltestellen anspruchsvoll ist. In der Stadt Bern wird im März über einen Verpflichtungskredit von 67.5 Millionen Franken für die Sanierung von 94 Bus- und Tramhaltestellen abgestimmt. In Neuchâtel sind 78% der Haltestellen für Personen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich und können 51% autonom benutzt werden. Die Stadt schätzt ihre Kosten für die ausstehenden Sanierungen auf 3 Millionen. Sie gibt an, dass die Erhöhung einer Haltekante 25'000 Franken kostet, wovon 20% vom Kanton getragen werden. (Arcinfo, 11.12.23; Bieler Tagblatt, 4.1.24).

 

Auch in Baden wurde bereits ein Kredit für den Umbau von Haltestellen beantragt. Die Stadt hat eine Priorisierung der Haltestellen vorgenommen und geprüft, ob Synergien genutzt werden können, um Kosten zu sparen. Auch im Zuge der Elektrifizierung des Transportunternehmens RVBW sei es notwendig, anfallende Bauarbeiten für Haltekanten und Ladestationen zu koordinieren und gleichzeitig auszuführen. Zudem wurde beachtet, dass manche Bauvorhaben mit der Denkmalpflege und der Stadtbildkommission abgesprochen werden. Die Stadt Aarau plant eine Sanierung von fast der Hälfte ihrer Busshaltestellen. Sie will, wenn möglich, weiterhin Synergien im Rahmen von Strassenbauprojekten nutzen und beispielsweise gelichzeitig Wasserleitungen erneuern. In Dietikon sind bereits sämtliche relevanten Fahrzeuge, Bauten und Anlagen des öffentlichen Verkehrs gesetzeskonform ausgebaut, oder werden es in absehbarer Zeit sein. (Limmattaler Zeitung, 6.1.24; Aargauer Zeitung, 23.1., 30.1.).

 

In Basel sind 91% der Haltestellen für mobilitätseingeschränkte Personen zugänglich und insgesamt 20,5% der Haltestellen autonom benutzbar. In Zürich ist gut die Hälfte aller Haltestellen autonom nutzbar und 91% sind zugänglich. In der Stadt gibt der Niveauunterschied zwischen Trittbretthöhe von einigen Tram und Haltekanten Anlass zur Diskussion. Der Abnutzungsgrad von Schiene und Rädern sowie die Belastung der Fahrzeugfederung wirken sich auf die Einstiegshöhe aus, was ein ebenerdiges Einsteigen oftmals erschwert. In Winterthur sind 16% der Haltestellen autonom nutzbar und 88% zugänglich, wohingegen in St. Gallen nur die Hälfte aller Haltestellen zugänglich ist. (Limmattaler Zeitung, 4.1.24; BZ Basel, 13.1.; Der Landbote, 18.1.).

 

Die Inklusion wirkt sich auch auf andere Bereiche aus

Inklusion von Menschen mit Behinderungen ist ein breites Thema, das alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst. Auch in den Bereichen Sport, Freizeit, Kultur, Bildung und der Integrationsförderung von Menschen mit Behinderungen werden in Dietikon Massnahmen umgesetzt. Neubauten oder Umgestaltungen öffentlicher Gebäude werden immer barrierefrei ausgestaltet. Für bestimmte Aufgaben stellt der Stadtrat Menschen mit Behinderungen ein und hat eine barrierefreie Version der Website aufgeschaltet. In der Stadt wird ein Inklusionscheck diskutiert, welcher Schwachstellen identifizieren könnte, an welchen Stellen die Stadt noch nicht barrierefrei ist. In Neuchâtel wurde Menschen mit Sehbehinderung der Besuch zu kulturellen Veranstaltungen ermöglicht. In einem Theater mit Audiodeskription konnte eine Gruppe vor Beginn der Vorstellung über die Bühne laufen und das Bühnenbild ertasten. Das Orchester Sinfonietta in Lausanne stellte hörgeschädigten Personen vibrierende Gilets zur Verfügung. Im Bereich der Bildung wird Inklusion anhand von Begleitung, Einzelstunden und angepassten Prüfungsbedingungen ermöglicht wie auch mit individuell verhandelten Nachteilsausgleichsangeboten an Hochschulen. (Limmattaler Zeitung, 6.1.,3.2.; Swissinfo, 12.1.; Republik, 13.1.).

 

Die Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes steht bevor

Die Situation vieler Menschen mit Behinderungen ist zum Beispiel im Arbeitsmarkt, bei der freien Wahl der Wohnverhältnisse oder beim Zugang zu täglichen Dienstleistungen nach wie vor prekär. Im Zuge der Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes wird unter anderem der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Dienstleistungen Privater diskutiert, wie auch die Anerkennung der Gebärdensprache. Zudem will der Dachverband der Schweizerischen Behindertenorganisationen Inclusion Handicap Punkte einbringen, welche eine Etappierung von barrierefreiem Zugang zum öffentlichen Verkehr mit verbindlichen Zwischenzielen umfassen, eine regelmässige Kontrolle der Zielerreichung beinhalten und zweckgebundene Finanzierung wie auch Sanktionen betreffen. Damit sollen an allen Haltestellen in der Schweiz flachere Rampen, ebenerdige Einstiege und Lifte an Stellen sichergestellt werden, an denen es nur Treppen gibt. (Le Temps, 19.1.; Tages-Anzeiger, 22.1.; Le Journal du Jura, 23.1.; Freiburger Nachrichten, 30.1.; Tages-Anzeiger, 31.1.).

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