Das Manifest Urbanistica im städtischen Realitätscheck
Die Schweiz ist ein attraktives Land. Eine Folge davon ist ein starkes Bevölkerungswachstum und damit verbunden eine fortschreitende Urbanisierung: Da noch bestehendes Kulturland erhalten werden soll, sind insbesondere urbane Siedlungen qualitätsvoll zu verdichten. Für den Städtebau stellt dies einen Paradigmenwechsel dar: nach innen verdichten statt auf der grünen Wiese bauen. Zudem braucht es eine integrale Herangehensweise und den Einbezug unterschiedlicher Akteurinnen. Der Städtebau tut sich aus unterschiedlichen Gründen schwerer mit dieser Herausforderung, als von einigen Akteuren erwartet. Umso wichtiger, über den Stellenwert des Städtebaus in unserer Gesellschaft zu diskutieren. Das Manifest «Urbanistica» hat sich dies zum Ziel gesetzt.
Das von mehreren namhaften Architekten und Stadtplanerinnen unterzeichnete Manifest beschreibt entlang von 8 Maximen, was guten Städtebau ausmacht und welche Voraussetzungen er bräuchte. So wird beispielsweise gefordert, dass er eine Aufgabe der öffentlichen Hand sei, oder dass Konkurrenzverfahren die besten Lösungen und Impulse für Raum- und Stadtplanung geben. Dabei soll der Städtebau zu geringerem Verkehrsaufkommen, effizienterer Bodennutzung, attraktiven öffentlichen Räumen, verbessertem Stadtklima und sozialer Durchmischung führen. Betont wird zum Beispiel auch die besondere Herausforderung, die dabei Agglomerationen darstellen.
Der Städteverband wollte wissen, wie Politiker und Stadtentwicklerinnen das Manifest beurteilen, und lud zum Realitätscheck ein. Im Bärentower, hoch über den Dächern der städtischen Agglomerationsgemeinde Ostermundigen bei Bern, stellte zuerst Balz Halter, Mitinitiant und Mitunterzeichner von «Urbanistica» und Firmeninhaber des Bauunternehmens Halter AG, das Manifest vor, bevor dieses in einem Podiumsgespräch diskutiert wurde. Unter der Moderation von Tim Van Puyenbroeck diskutierten der Stadtpräsident Erich Fehr, Biel, der Gemeindepräsident Thomas Iten, Ostermundigen, und die Direktorin Stadtentwicklung Anna Schindler, Zürich, das Manifest.
Mehr Sichtbarkeit
Grundsätzlich sind sich Fehr, Schindler und Iten einig: Das Manifest geht in die richtige Richtung. Wie Balz Halter sind sie der Meinung, dass sich gute Raum- und Stadtplanung nicht gesondert betrachten lässt, sondern auch auf einer politischen und gesamtgesellschaftlichen Ebene angegangen werden muss. Damit erst, so auch das Manifest, könne der Stadtplanung die nötige Sichtbarkeit gegeben werden. Viele Gemeinden und kleinere Städte haben aber keine eigene Stadtplanung/Ortsplanung und beauftragen Planungsbüros.
Halter plädiert dafür, Raum- und Stadtplanung über Stadt- oder Gemeindegrenzen hinaus zu denken und Kompetenzen auch regional anzusiedeln. Bislang gibt es seiner Meinung nach in dieser Hinsicht nur wenige gelungene Beispiele. Aber: Iten weist daraufhin, dass die Zusammenarbeit der Stadt Bern und der Gemeinden Ostermundigen und Muri im Rahmen des Autobahnrückbaus Bern Ost funktioniere.
Verantwortung übernehmen
Oft sei es nicht nur mangelnde Zusammenarbeit bei Gemeinden, die gute regionale Ansätze verunmöglicht, sondern auch zögerliche kantonale Stellen, unterstreicht Fehr. Oft zeige sich keine Instanz wirklich bereit Entscheide zu fällen. Stattdessen werden paragraphentreue Urteile gefällt, die oftmals guten Städtebau eher verhindern. Dieser Aufruf zu mehr Mut, zum Interessenabwägen und Handeln wird entlang von der Verantwortungsfrage diskutiert. So taucht das Stichwort Verantwortung immer wieder auf: Gerade bei komplexen Planungen bestehen oft Zielkonflikte, die sich nicht einfach lösen lassen; zum Beispiel, weil verschiedene Vorschriften sich widersprechen. In solchen Situationen sei es nötig, so Fehr, dass Verantwortliche in der Politik wagen, Entscheide zu fällen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Iten sieht das auch so; im zukünftigen Baureglement von Ostermundigen wird die Interessensabwägung daher behandelt.
Verantwortung für eine gute Verdichtung betreffe aber nicht allein die Politik, so Fehr, auch die Bauunternehmer seien verantwortlich dafür, nicht nur an den Profit zu denken, sondern sich zu überlegen, ob ein Projekt städtebaulich Sinn ergibt.
Damit die unterschiedlichen Seiten jedoch Verantwortung übernehmen können, muss man zusammenarbeiten. Das heisst, die Kultur des Kompromisses pflegen, die zurzeit eher einen schweren Stand hat, so die Meinung aller am Diskussionstisch.
In einer direkten Demokratie liegt die Entscheidungsgewalt allerdings nicht bei der Verwaltung oder allein bei der Politik, sondern oft bei der Bevölkerung. Manches Projekt durchläuft alle Instanzen und scheitert krachend an der Urne. Wie lassen sich Projekte besser absichern? Halter als Investor wünscht sich, dass die Bevölkerung früher einbezogen werden soll, zum Beispiel mit zweistufigen Projekteingaben. Die beiden Stadtpräsidenten relativieren: Manchmal sei es wichtig, ein Projekt in einer Legislatur durchzubringen, weil es mit anderen politischen Entscheidungsträgern in der Schublade verschwinde. Mit mehr gescheiterten Projekten wegen längeren Prozessen sei niemandem geholfen, wenn Wohnungsraum geschaffen werden soll.
Fehr sieht anderswo Potential zur Verbesserung: Möglicherweise gebe es zu viele Regelwerke und Instrumente – oder die falschen: Heute verdienen Architektinnen und Architekten primär über die Realisierung und nicht über das Projekt. Will man guten Städtebau, müsse man ihn auch valorisieren.
Blick in die Zukunft
Van Puyenbroeck will schliesslich wissen, ob denn die Raum- und Stadtplanung wirklich bisher verfehlt gewesen sei, wie das Manifest behauptet. Schindler denkt eher, dass die Raumplanung, so wie sie angedacht war, gar nie umgesetzt worden sei. Aus dem Publikum unterstützt dies Alec von Graffenried, Stadtpräsident von Bern, und meint, der Stadt- und Raumplanung könne nicht die Schuld gegeben werden für soziokulturelle Herausforderungen und Probleme, die auf anderer Ebene gelöst werden müssen; als Beispiel nennt er den Steuerwettbewerb, der mit der Raumplanung verknüpft ist, und einen grossen Einfluss auf den Städtebau habe.
Zuletzt fragt Van Puyenbroeck, wie denn nun frischer Wind in die Prozesse des Städtebaus und der Planung gebracht werden könne, um in zentralen Siedlungsstrukturen hochwertig zu verdichten: Die Gesprächsrunde ist sich ziemlich einig und wünscht sich mehr Mut zum Ausprobieren, mehr Konkurrenzverfahren – was insbesondere junge Planende mit innovativen Ideen teilhaben lässt – sowie Sensibilisierung und stärkeren Einbezug der Bevölkerung.
Verdichtung wird ein Schwerpunktthema der Raum- und Stadtplanung bleiben. Der Schweizerische Städteverband befasst sich mit dem Thema intensiv und bringt sich auf nationaler Ebene wie über diverse Angebote für die Mitglieder und den Austausch von Fachgremien in die Debatte ein.