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Kurt Fluri: Corona als Prüfung für die Städte und das Zusammenwirken der Staatsebenen

10. März 2021 – Keine andere Ebene des Staates ist näher bei den Menschen als jene der Städte und Gemeinden. Das macht die Corona-Pandemie deutlich. Fänden die Erfahrungen, die sich daraus ergeben, auf Bundesebene in Krisenzeiten mehr Gehör, liesse sich dort die Zahl der politischen Pirouetten reduzieren.

Kurt Fluri, Präsident des Schweizerischen Städteverbandes

 

Die Tage Mitte März 2020 werden vielen von uns so in Erinnerung bleiben, wie das bei Daten von ausserordentlichen Ereignissen der Fall ist. Aber im Gegensatz zum 11. September 2001, von dem wir noch wissen, wo wir die Bilder der einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York am Fernsehen zum ersten Mal gesehen haben, waren wir in der Schweiz zwischen dem 13. und dem 16. März 2020 nicht mehr nur Publikum bei einem schockierenden Ereignis. Vielmehr waren wir von der Corona-Pandemie, die damals über Europa hereinbrach, alle direkt betroffen – vorerst vor allem von ihren Nebenwirkungen, von denen die bedeutendste darin bestand, unser gewohntes öffentliches Leben innert weniger Tage zum Erliegen zu bringen.

 

Nebeneinander statt Miteinander

Spätestens am Freitagnachmittag, nachdem der Bundesrat unter anderem die Schulen geschlossen, Homeoffice empfohlen, von Fahrten mit dem öffentlichen Verkehr abgeraten und die Zahl der Besucherinnen und Besucher von Veranstaltungen beschränkt hatte, wussten wir, was es geschlagen hatte. Nach einem Wochenende, an dem die Züge schon leer, aber die Wochenmärkte noch gut besucht waren, erklärte die Landesregierung am Montag die «ausserordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz»: Die Macht war in den Händen des Bundesrats konzentriert, und die meisten Menschen in unserem Land, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr miterlebt hatten, fanden sich mitten in der grössten Ausnahmesituation ihres bisherigen Lebens wieder.

 

Was wir seither mit dem leicht übertragbaren und für Personen in hohem Alter oder mit Vorerkrankungen lebensgefährlichen Virus erlebt haben, war für die Städte mit ihren hohen Dichten an Einwohnerinnen und Einwohnern eine grosse Herausforderung. Viel dessen, was die Städte als zentrale Orte des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs unter Menschen ausmacht, war im Frühling 2020 und im Winter 2021/2020 nicht mehr möglich und dazwischen nur mit beträchtlichen Einschränkungen. Geschlossene Läden, geschlossene Restaurants, zweitweise auch geschlossene Parkanlagen: Nebeneinander statt miteinander lautet die Devise bis heute. Erfreulich vielen Ausprägungen der spontanen Nachbarschaftshilfe in Wohnblöcken und Quartieren, sei es für den Einkauf oder auch nur für ein bisschen menschlichen Kontakt, standen und stehen spärlich bevölkerte Stadtzentren, wirtschaftliche Schäden und psychische Probleme gegenüber.

 

Defizite in der Zusammenarbeit

Heute, ein Jahr nach dem denkwürdigen Wochenende Mitte März 2020, ist weder die Pandemie vorüber, noch ist die Krise mit all ihren vielen Unwägbarkeiten bewältigt, in die sie uns gestürzt hat. Aber wir alle sind um viele Erfahrungen reicher. Für viele Menschen in Büroberufen waren Videokonferenzen vor einem Jahr bloss eine theoretische Möglichkeit. Inzwischen sind sie, ebenso wie das Arbeiten zu Hause, zu einer Routine geworden. Und in der Stadt Solothurn durften wir feststellen, dass unsere Krisenorganisation auch im Falle einer Pandemie funktioniert, obwohl wir bei unseren Übungen immer andere Anlassfälle angenommen hatten - einen Chemieunfall am Bahnhof zum Beispiel oder einen Strom-Blackout.

 

Wie jede Periode fundamentaler Unsicherheit war und ist auch die Corona-Krise eine Prüfung, die dem Blick durch eine Lupe gleicht, und uns zwingt, Dinge genau zu betrachten – in diesem Fall den grundsätzlichen Zustand von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Während die Krisenorganisationen in Solothurn und anderen Städten ihre Funktionstüchtigkeit erfolgreich unter Beweis stellten, traten insbesondere in der Zusammenarbeit zwischen den Staatsebenen Defizite zutage. Dass die Städte zu Beginn der Krise nicht in die Krisenorganisation des Bundes einbezogen wurden, lässt sich retrospektiv allenfalls noch mit der Geschwindigkeit rechtfertigen, in der sich unser Land und der federführende Bundesrat auf die unerwartete Situation einstellen mussten.

 

Widerspruch zur Bundesverfassung

Dass die Landesregierung die Städte im Gegensatz zu den Kantonen und Sozialpartnern auch heute immer noch nicht in die Erarbeitung der Massnahmen zur Bewältigung der Pandemie einbeziehen muss, ist mehr als nur ein Versäumnis des Bundesrates, der das so empfohlen hat, und der eidgenössischen Räte, die das mittlerweile so beschlossen haben. Dass die Gemeinwesen, die den engsten Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern pflegen, ihre Erfahrungen und Einschätzungen nicht automatisch in den Prozess des beschleunigten politischen Entscheidens einbringen können, steht im Widerspruch zur Bundesverfassung. Sie hält die Eidgenossenschaft seit immerhin zwei Jahrzehnten dazu an, bei ihrem Handeln nicht nur die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden zu beachten, sondern auch die besondere Situation der Städte und der Agglomerationen.

 

Nähme der Bund diese Verpflichtung ernst, würde er nicht auf die elementaren Erfahrungen verzichten, welche die Städte als zentrale, bevölkerungsreiche und im besonderen Masse betroffene Orte in der Bewältigung der Krise machen, insbesondere im direkten Kontakt mit ihren Einwohnerinnen und Einwohnern. Ob Pflegerinnen und Pfleger, ob Zivilschützerinnen und Zivilschützer: All diese Menschen im Dienste von Städten und Gemeinden fühlen der Bevölkerung Tag für Tag den Puls. Ob Mahlzeitendienst, Spitex oder Sozialamt: Keine anderen staatlichen Organe pflegen näheren Kontakt mit Menschen, die von der Krise indirekt oder direkt betroffen sind.

 

Praktische Erfahrungen einbringen

Wären solche Erfahrungen in einem strukturierten Prozess zeitig in die fortlaufenden Veränderungen des Regelwerks eingeflossen, das unser Zusammenleben unter den Vorzeichen des Virus bestimmt, hätten sich etliche gesetzgeberische Pirouetten vermeiden lassen. Pirouetten, die dem Vertrauen der Bevölkerung in das staatliche Handeln nicht eben zuträglich waren. Nichtsdestotrotz waren und sind die Städte bestrebt, beim Bund und in den Kantonen ihre praktischen Erfahrungen einzubringen. Sie halten ihre Dienstleistungen vom Sozialwesen bis zum öffentlichen Verkehr aufrecht, und sie unternehmen vor Ort auch alles, was in ihrer eigenen Kompetenz steht, um die negativen Wirkungen der Corona-Krise einzudämmen.

 

In der Stadt Solothurn zum Beispiel sind wir dem Gastgewerbe entgegengekommen, in dem wir ihm im Sommer – notabene gebührenfrei – mehr Flächen im Freien zur Verfügung gestellt haben, damit dieses sein Platzangebot trotz Abstandsregeln aufrechterhalten konnte. Und für den Winter haben wir generell Witterungsschütze bewilligt, um auch im Freien ein mehr als nur improvisiertes Wirten zu ermöglichen. Es ist absehbar, dass es in den Städten nicht bei diesen Erfahrungen bleiben wird, weil sich viele Folgen der Krise – von der Arbeitslosigkeit bis zu Steuerausfällen – erst mit einer gewissen Verzögerung bemerkbar machen werden.

 

Voneinander lernen

All diese heraufziehenden Herausforderungen behalten wir in den Städten im Auge, und wir sind daran, Antworten auf strukturelle Fragen zu finden, die sich in der Krise akzentuiert haben. Eine davon ist jene nach der künftigen Rolle und Gestaltung unserer Stadtzentren. Hier können wir, jede Stadt für sich, kreativ werden, und hier können wir auch voneinander lernen. Gegenüber dem Bund werden wir nicht müde werden, unsere Erfahrungen und Bedürfnisse einzubringen.

Im Falle der Corona-Krise zeichnen sich bereits konkrete Begehren ab: Zum einen die Verlängerung der finanziellen Unterstützung des öffentlichen Ortsverkehrs wegen den durch Corona bedingten Ausfällen auch im Jahr 2021 und zum anderen die Möglichkeit, in Notsituationen nicht nur Zivilschützerinnen und Zivilschützer, sondern auch Zivildienstleistende aufbieten zu können.

 

Sosehr uns allen die Corona-Krise erst noch weiterbeschäftigen und dann in Erinnerung bleiben wird, sosehr engagiert sich der Städteverband dafür, dass seine Mitglieder aus 

dieser fordernden Zeit gestärkt hervorgehen. Sowohl, was die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft angeht, als auch ihren Einfluss auf Bundesebene.

«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt.

 

Kurt Fluri ist seit 2013 Präsident des Schweizerischen Städteverbandes, seit 2003 Nationalrat und seit 1993 Stadtpräsident von Solothurn.

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