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Krisengewinner öffentlicher Raum? Eindrücke aus Lugano

17. März 2021 – Die Devise «Abstand halten» und die Hürden bei Ortsveränderungen haben den Druck auf den öffentlichen Raum erhöht. Viele Städte haben Restaurants mehr Platz eingeräumt. Lugano hat darüber hinaus im Sommer von Donnerstag bis Sonntag die Seepromenade für Autos gesperrt und so Platz auch für Veranstaltungen geschaffen.

Nicoletta Crivelli und Tom Steiner

 

Die Corona-Krise hat das Leben radikal verändert. Seit dem zweiten Weltkrieg hat es zumindest in der westlichen Welt keinen vergleichbaren gesellschaftlichen Einschnitt mehr gegeben. Die Arbeit erfolgt soweit als möglich von zuhause aus, die Familien sind auf die Kernfamilien oder Wohngemeinschaften geschrumpft und versuchen, die soziale Enge auszuhalten. Sichtbar wird die Krise vor allem in den öffentlichen Räumen der Städte.

 

Gesperrte öffentliche Räume

Dazu können folgende Beobachtungen gemacht werden: Ein grosser Teil aller Staaten der Welt hat Einschränkungen des öffentlichen Lebens verfügt. Zumindest im Frühjahr 2020 waren auch in der Schweiz Strassen und Plätze fast menschenleer, ebenso der öffentliche Verkehr. Auch der motorisierte Individualverkehr hat abgenommen, beispielsweise im Kanton Zug um rund ein Drittel, der Luftverkehr ist in dieser Zeit um 85 Prozent zurückgegangen und auf den Stand von 1955 zurückgeworfen worden.

 

Die Staaten reagieren auf die Bedrohung mit Notstandsverordnungen: Demokratische Rechte werden temporär und zu einem Teil eingeschränkt. Unter freiem Himmel äussert sich dies vor allem im Versammlungsverbot (in einigen Staaten auch Ausgangssperre) und Maskenpflicht, aber auch in der Sperrung öffentlicher Räume. Über die Mobiltelefone der Bevölkerung werden die Bildung von Menschenansammlungen überwacht und Rückschlüsse auf mögliche Ansteckungen gezogen.

 

Quartierzentren als mögliche Gewinner

Das öffentliche Leben und die öffentlichen Räume haben sich tiefgreifend verändert. Die Innenstädte wirken zeitweise wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die unterwegs sind, tragen Atemschutzmasken und gehen sich sorgfältig aus dem Weg. Der Stadthistoriker Peter Payer sieht darin eine Veränderung der «Hierarchie der Sinne»: Im Gegensatz zu Kriegszeiten ist der Feind weder zu hören noch zu sehen. Das Einzige, was wir tun können, ist Distanz halten. Wir beobachten unsere Umwelt, schätzen Entfernungen ab und vermeiden den Kontakt zu Handgriffen und Türklinken. Dies sind völlig «unurbane» Praktiken. Dichte – auch Nutzungsdichte – war das Paradigma der Stadt in den letzten Jahren. Plötzlich jedoch ist Dichte toxisch.

 

Was bedeutet dies für die Stadt im Allgemeinen und die öffentlichen Räume im Speziellen? Stand bis anhin das dichte Stadtzentrum im Fokus und führten die peripheren Quartierplätze eher ein Mauerblümchendasein, so könnte die Krise eine Chance für die «Stadt der kurzen Wege» sein und den Quartierzentren neue Bedeutung verleihen. Ausgehend von den Realitäten der Megastädte sieht auch Stadtsoziologe Richard Sennett dies als realistisches Szenario.

 

Erholung, Spiel und Sport

Wie das Team des dänischen Stadtplaners und Architekten Jan Gehl in seiner Studie zu vier dänischen Städten festgestellt hat, ist die Nutzung der öffentlichen Räume während des Lockdowns nicht zurückgegangen, sie hat sich jedoch tiefgreifend verändert: Die öffentlichen Räume wurden vor allem für Erholung, Spiel und Sport genutzt - zudem verstärkt von Kindern und älteren Menschen. Die Menschen nutzten primär ihr Wohnumfeld, die Mobilität war sehr eingeschränkt. An beliebten Orten ist die Einhaltung der Distanzregeln zur Herausforderung geworden. Diese Beobachtungen dürften sich auf Schweizer Verhältnisse übertragen lassen.

 

In Europa haben viele Städte reagiert und Strassen für den Autoverkehr gesperrt bzw. Fahrspuren reduziert, um genügend Platz für Fussgängerinnen und Fussgänger oder Velofahrende zu schaffen. Was vorher jahrelange, politische Prozesse bedingte, wurde innert Tagen umgesetzt.

 

Markt und Festival statt Autoverkehr

Während Velofahrende vor allem in Westschweizer Städten von neuen oder verbreiterten Velospuren profitierten, war diesbezüglich kein landesweiter Trend zu erkennen. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Umso interessanter sind die Beispiele aus der Stadt Lugano: Die Stadt leidet unter der historisch gewachsenen Verkehrsführung mit einer Haupt-Strassenachse entlang des Seebeckens. Dadurch wird die Innenstadt vom See abgeschnitten.

 

Wegen der Corona-Pandemie musste mehr Platz für Gastronomie und Veranstaltungen geschaffen werden. Zu diesem Zweck wurde von Ende Juni bis Ende August 2020 die Strassenachse Lungolago von Donnerstag bis Sonntag gesperrt. Die frei gewordene Fläche wurde den Gastronomiebetrieben für Aussenwirtschaften zur Verfügung gestellt. Ausserdem wurden Veranstaltungen im Rahmen des «Longlake-Festivals» durchgeführt. Freitag und Samstag fand jeweils ein Markt mit 30-35 Ständen statt. Weiter wurden am teilweise schlecht zugänglichen Seeufer Bade- und Einstiegsmöglichkeiten geschaffen, um Menschenkonzentrationen zu vermeiden.

 

Kein Verkehrskollaps

Die temporäre Umnutzung hat gezeigt, dass die Stadt trotz dieser Sperrung keinen Verkehrskollaps erleidet. Zudem wurden die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Flächen am Seeufer erlebbar gemacht. Damit die Menschen mehr auf das Velo umsteigen, wurden in Lugano Busspuren für Velos freigegeben, aber wie in Genf, Lausanne und Freiburg auch kurzerhand ganze Fahrspuren oder Strassen für den Autoverkehr gesperrt und als Velorouten signalisiert.

 

Weiter wurden zahlreiche Gebiete mit Beschränkung auf Zubringerverkehr für Velos freigegeben. Den «Publibike»-Nutzenden wurden 30 Tage Gratis-Nutzung der Mietvelos geschenkt, und die Stadt subventioniert den Kauf eines Elektrovelos mit einem finanziellen Beitrag zwischen 250 und 500 Franken.

 

In Lugano wurde Wert darauf gelegt, dass auch im «Corona-Sommer 2020» Veranstaltungen im Zentrum und am See stattfinden. Im Gegensatz zu anderen Schweizer Städten werden in Lugano Veranstaltungen wie das «Longlake-Festival» unter der Gesamtleitung der Stadt durchgeführt. Dadurch konnten geeignete Schutzkonzepte verfügt und durchgesetzt sowie die einzelnen Veranstaltungen räumlich besser verteilt werden.

 

Freiluft-Trainingsgeräte und «Urban gardening»

Wie in anderen Städten wurden die städtischen Grünanlagen während der Pandemie stärker frequentiert und für eine wesentlich grössere Bandbreite an Tätigkeiten genutzt. Während der Schliessung der Fitnesscenter und Sportanlagen waren beispielsweise Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung im Aussenbereich sehr gefragt. Die Stadt kam diesem Bedürfnis durch die Installation von Outdoor-Trainingsgeräten nach. Weiter wurden über 100 Flächen für «urban gardening» bereitgestellt und an Bewohnerinnen und Bewohner vermietet.

 

Damit die Gastronomiebetriebe mit Aussenwirtschaften die Distanzregeln einhalten konnten, wurde ihnen unbürokratisch die entsprechende Ausdehnung der Aussenfläche genehmigt. Zudem wurden ihnen die Gebühren erlassen - dies entspricht der Praxis der meisten Schweizer Städte.

 

Ein Teil dieser Massnahmen wird in einer zukünftigen Normalität wieder rückgängig gemacht werden. Bei vielen anderen Massnahmen haben die Pandemie und vor allem der «Corona-Sommer 2020» die Bedeutung der städtischen öffentlichen Räume wohl langfristig verändert. Und genau darin liegt eine der grossen Chancen der Corona-Krise.

 

Nicoletta Crivelli ist Verantwortliche für den öffentlichen Raum bei der Divisione Spazi Urbani della Città di Lugano
Tom Steiner ist Geschäftsführer des Zentrums Öffentlicher Raum (ZORA), einer Kommissiondes Schweizerischen Städteverbandes.

 

Quellen

 

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