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Die erzwungene Pause verändert das Kulturleben der Städte, aber sie schafft es nicht ab – im Gegenteil

24. März 2021 – Die Corona-Krise kann Ausgangspunkt sein für einen Wiederaufbau der Kultur, der von allen Staatsebenen gemeinsam getragen wird. Dabei steht eines fest: Digitale Angebote können das städtische Kulturleben nie ersetzen, sondern nur ergänzen. Und ohne standortgebundene Kultur leiden der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Attraktivität der Städte.

von Marlene Iseli, Leiterin Kulturpolitik beim Schweizerischen Städteverband

 

Die Städte müssen viel strategische und konzeptionelle Arbeit leisten, wenn sie die Wiederaufnahme des Kulturbetriebs aktiv gestalten und allenfalls auch neue Akzente setzen wollen. In einer Resolution der Städtekonferenz Kultur (SKK) machen sich 29 Kulturdirektorinnen und Kulturdirektoren dafür stark, diesen Wiederaufbau gemeinsam mit den anderen Staatsebenen und den Kulturorganisationen anzugehen. Es ist offensichtlich, dass viele Transformationsprojekte, die vom Bund und den Kantonen finanziell angeschoben werden, mittelfristig auch auf der Gemeindeebene Ressourcen binden werden und auch von den Kulturunternehmen mitgetragen werden müssen.

 

Gemeinsamer politischer Austausch

Auch deshalb fordern die Kulturdirektorinnen und Kulturdirektoren, dass der Wiederaufbau des Kultursektors in einem gemeinsamen politischen Austausch über die Pandemie hinaus angegangen wird. Die beiden von der SKK organisierten Behördenkonferenzen, an denen sich die Kulturbeauftragten der Städte und ihre politischen Vorgesetzten in diesem Jahr austauschen werden, bieten eine Plattform für den Austausch zu Zukunftsvisionen und Transformationsmöglichkeiten unter Kulturstädten.

 

Inhaltlich bewegen sich die Städte in einem Spannungsfeld zwischen zwei Zielen: hier das Bestreben, das klassische physische kulturelle Leben zu revitalisieren, und dort die Absicht, die Krise als Katalysator für eine Transformation des Kultursektors wirken zu lassen. Transformationsprojekte sind Bestandteil der Unterstützungsmassnahmen, die Bund und Kantone während der Pandemie als Instrumente mit erhoffter nachhaltiger Wirksamkeit neben den notwendigen Hilfeleistungen für Ausfallentschädigungen, Kurzarbeit und Nothilfe für den Kulturbereich eingeführt haben. Was aber heisst Transformation?

 

Die Digitalisierung schwingt mit

In den Diskussionen über diesen Ansatz schwingt stark der Begriff der Digitalisierung mit. Wird Transformation gar mit Digitalisierung gleichgesetzt, birgt das für die Städte Risiken. Sie sind ja vor allem auch daran interessiert, ihre öffentlichen Räume und ihre kulturellen Institutionen wieder zu beleben. Selbstverständlich ist dabei auch an gemeinsame Kulturerlebnisse unter Verwendung von digitalen Formaten zu denken. Kinobesuche sollen dereinst ebenso wieder zum städtischen Leben gehören wie Public-Viewing-Abende. Entsprechend empfiehlt es sich, nicht einfach das Analoge dem Digitalen gegenüberzustellen, geschweige denn das eine gegen das andere auszuspielen. Doch wird mit der Digitalisierung oft eine geographische Entgrenzung assoziiert, die sowohl die Kulturschaffenden von ihrem Publikum, wie auch das Publikum selbst physisch trennt.

 

Was aber bedeutet Kultur in ihrem Verhältnis zum vor Ort versammelten Publikum? Welchen Stellenwert nimmt sie in der Idee von städtischen Zentrumsfunktionen ein? Und wie steht es eigentlich mit dem Kulturverhalten des Kulturpublikums?

 

Das Publikum signalisiert Zurückhaltung

Die Einschränkung des kulturellen Lebens durch den Bundesratsentscheid, alle Versammlungsorte zu schliessen, ist das eine. Das Verhalten des Kulturpublikums bei einer Wiedereröffnung das andere. Derzeit ist die Agentur „L’Oeil du Public“ daran, mittels einer dritten Umfrage zu eruieren, wie sich das Kulturpublikum heute und zukünftig verhält, welche Besuche es in Abhängigkeit mit der epidemiologischen Entwicklung plant und welche Kulturangebote digitaler Natur es konsumiert und wertschätzt.

 

Die zweite Befragung vom vergangenen September, also noch bevor die zweite Welle eine Schliessung der Kulturhäuser bedingte, hatte die folgenden Erkenntnisse generiert: Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung äusserte, keine kulturellen Veranstaltungen besuchen zu wollen, bis die Krise ganz vorbei ist. 43 Prozent der Theater-Abonnentinnen und -Abonnenten wollten die Ausgaben für ihre Dauerkarten kürzen oder diese gar nicht mehr erneuern. Ganze 55 Prozent der Befragten stellten in Aussicht, ihre Ausgaben für Kulturbesuche in den nächsten zwölf Monaten zu reduzieren.

 

Interessant waren auch die Einsichten zur Nachfrage nach digitalen Kulturangeboten. Diese war bei Filmen und Serien ungebrochen, Aufzeichnungen von Aufführungen oder virtuelle Rundgänge durch Kulturerbstätten als zukünftige Kulturerfahrungen liessen jedoch bei 65 Prozent der Befragten wenig oder gar keine Lust aufkommen.

 

Solche Umfragen sind stets als Momentaufnahme zu betrachten. Man könnte wohl in der Zwischenzeit mit anderen empirischen Daten auch Abweichungen zwischen der Absicht der Befragten und dem tatsächlichen Verhalten festmachen. Dennoch sind die Beweggründe, Absichten und möglichen Ängste des kulturaffinen Publikums in die Konzeption einer „Post-Corona-Kultur“ einzubeziehen.

 

Gesellschaftliche Funktion des strukturierten Angebots

Daher werden sich auch aus der Auswertung der dritten Umfragerunde interessante Rückschlüsse ziehen lassen, auch und insbesondere hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen digitaler und allenfalls hybrider Formate. Elementar wäre zudem die Sicht der Kulturschaffenden selbst. Können wir Transformationen von ihnen einfordern, wenn sie diese nicht aus eigener Überzeugung angehen?

 

Aus städtischer Sicht ist das lokale, unmittelbare und zeitlich festgelegte Kulturangebot sowohl strategisch wie auch für die Gestaltung des Zusammenlebens zentral. Mit anderen Worten: Ein strukturiertes Kulturangebot hat eine essentielle gesellschaftliche und wirtschaftliche Funktion im städtischen Leben.

 

Das kulturelle Leben ist ein tragender Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts, es kann nicht digital „entgrenzt“ werden. Zudem ist die Kultur Ausgangs- und Bezugspunkt für die Kreativwirtschaft, die ihrerseits ein Standortfaktor für die Städte ist. Nicht zuletzt deshalb werden die städtischen Kulturfördererinnen und Kulturförderer auch weiterhin darauf abzielen, neben allen Möglichkeiten zur Kulturvermittlung im digitalen Raum lokal gebundene Aktivitäten zu fördern. Die Frage der Entgrenzung in einem breiteren Sinne könnte allerdings interessant sein mit Blick auf die etablierten Sparten der Kulturförderung.

 

Element des Zusammenhalts, Ausgangs- und Bezugspunkt

 

Diese Überlegungen spiegeln sich in den folgenden zwei Thesen:

 

Erstens: Kultur als tragendes Element des gesellschaftlichen Zusammenhalts spricht für lokal gebundene Kulturaktivitäten.

Eine moderne Kulturförderung konzentriert sich nicht mehr ausschliesslich auf die sogenannten hohen Künste, sondern befördert ebenso partizipative und integrierende kulturelle Aktivitäten der Bevölkerung. Zusammenkunft und Identifikation sind die Kerne der kulturellen Teilhabe, von lebendigen Traditionen und des angestrebten gesellschaftlichen Zusammenhalts. Für viele Formate sind physische Zusammenkünfte elementar – zum Singen und Musizieren, für traditionelle Feste, für Poetry-Slams mit Publikumsinteraktion etc. Auch Identifikation ist häufig an den Standort gebunden und deshalb nicht beliebig ins Digitale zu überführen. Ein breites kulturelles Angebot belebt die Stadt, verbindet Menschen und führt sie zusammen. Es ist daher ein wichtiger Treiber für zivilgesellschaftliches Engagement und für die Verankerung mit einem nicht beliebig austauschbaren Wohnort. Kultur verleiht einer Stadt und ihrer Bevölkerung ein Profil.

 

Zweitens: Kultur ist Ausgangs- und Bezugspunkt für die Kreativwirtschaft und trägt entscheidend zum Standortvorteil einer Stadt bei.

Spätestens seit Richard Florida und seinem Werk zu den «creative cities» wird die These kontrovers diskutiert, dass das kulturelle Angebot einer Stadt und, damit verbunden, die Lebensqualität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner die Stadtentwicklung entscheidend beeinflussen. Google zum Beispiel ist bereit, in Zürich hohe Büromieten in der Innenstadt zu bezahlen, damit sich die Mitarbeitenden in einer stimulierenden Umgebung bewegen können. Im Bereich der Kreativwirtschaft, die heute gemäss «Creative Economy Report 2018» rund vier Prozent zur Bruttowertschöpfung in der Schweiz beiträgt, sind zwar die digitalen Rahmenbedingungen und Erzeugnisse zentral. Dennoch sucht ihre Community das Urbane, auch in Coworking Spaces und Innovationshubs. Voraussetzung dafür sind vorhandene und erschwingliche Räume, aber nicht irgendwo. Wenn Kinos schliessen und Konzerte nicht oder nur erschwert durchgeführt werden können, wenn sich das Nachtleben auf den Barbesuch oder das Autokino reduziert, dann bleibt noch das kulinarische Angebot und die Nähe zu den Hochschulen. Und das allein reicht nicht, um einen Ort attraktiv zu machen – zumindest nicht einen städtischen.

 

«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt.

 

Marlene Iseli ist Leiterin Kulturpolitik beim Schweizerischen Städteverband.

 

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