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Erst die Lebensmittelversorgung, dann die Pandemie. Wie die Schweizer Städte der Spanischen Grippe zu Leibe rückten

07. April 2021 – Im Sommer 1918, also vor über 102 Jahren, wurde die Schweiz von der Spanischen Grippe erfasst. Der Bundesrat hielt sich zurück und die Städte standen in der Verantwortung. Abgesehen von der Pandemie stellten sich damals aber auch andere existentielle Fragen für die Städte und ihre Bevölkerungen. Teil 5 der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» zieht einen historischen Vergleich.

von Olivier Keller, Historiker und Praktikant beim Schweizerischen Städteverband 

 

Heute geht man davon aus, dass die Spanische Grippe weltweit 25 bis 50 Millionen Menschenleben forderte, bei einer Weltbevölkerung von damals weniger als zwei Milliarden. Alleine in der Schweiz fielen der Grippe in zwei Wellen mehr als 25’000 Personen zum Opfer. Das sind in absoluten Zahlen mehr als doppelt so viele Tote wie bisher durch Corona. Die höhere Opferzahl dürfte jedoch primär auf die viel schlechtere medizinische Infrastruktur zurückzuführen sein, die damals zur Verfügung stand. Anders als heute an Corona starben vor allem junge Leute an der Spanischen Grippe. Am meisten Todesopfer gab es in der Schweiz unter den 20 bis 29-jährigen Männern.

 

Der Ursprungsort der Spanischen Grippe ist bis heute ungeklärt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass das Virus mit US-amerikanischen Soldaten nach Europa gelangte, die im Ersten Weltkrieg kämpften. In den Schützengräben mit ihren katastrophalen hygienischen Bedingungen verbreitete sich die Grippe sehr schnell und gelangte auch in neutrale Staaten wie die Schweiz. Dass in den kriegsführenden Staaten Pressezensur herrschte, begünstigte eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus zusätzlich. Hierin ist zudem der Name begründet: Erste Presseberichte über eine tödliche Grippewelle kamen in Europa aus dem neutralen Spanien, wo es eine freie Presse gab.

 

«In der Schweiz wurden die ersten sichern Influenzafälle in der zweiten Hälfte Mai festgestellt, zu einer Zeit, da die Epidemie in Spanien ausbrach und nachdem sie in Frankreich und wahrscheinlich auch in Deutschland schon seit einigen Wochen bestanden hatte», heisst es im Bundesratsbericht zum Jahr 1918. Insgesamt gab es bis Ende 1918 660’000 gemeldete Fälle, wovon über 500’000 auf die Monate Oktober-Dezember 1918 und somit auf die zweite Welle der Spanischen Grippe entfielen. Dies dürfte aber keinesfalls den tatsächlichen Zahlen entsprochen haben. Der Bericht geht davon aus, « (...), dass auf einen angezeigten zwei nicht angezeigte Fälle kommen, (...).». Somit sind 1918 wohl rund zwei Millionen Menschen in der Schweiz an der Spanischen Grippe erkrankt, was der Hälfte der damaligen Bevölkerung entsprach.

 

Die Massnahmen

 

Die Spanische Grippe traf die Schweizer Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit viel flächendeckender als dies bisher bei Corona der Fall war. Anfang 1919 klang die Grippe ab. Es ist davon auszugehen, dass so etwas wie eine Herdenimmunität erreicht worden war. Ein Faktor für die schnelle Verbreitung dürften Massnahmen gewesen sein, die im Vergleich zur aktuellen Pandemie viel weniger zielgerichtet waren.

 

Wir alle erinnern uns, wie im März 2020 zunächst Grossveranstaltungen verboten wurden. Dies war 1918 nicht anders. Im Bundesratsbericht heisst es: «So haben wir mit Rücksicht auf die grosse Ansteckungskraft der Influenza und in Anbetracht der wohl erwiesenen Tatsache, dass Menschenansammlungen ihre Verbreitung ganz besonders fördern, durch Beschluss vom 18. Juli 1918 die Kantone und Gemeinden ermächtigt, alle Veranstaltungen zu verbieten, welche zur Ansammlung zahlreicher Personen am gleichen Ort oder im gleichen Raum führen können, wie Theateraufführungen, kinematographische Vorstellungen, Konzerte, Volksversammlungen, Volksfeste und dgl.»

 

Ein entscheidender Unterschied war, dass der Bundesrat damals Grossveranstaltungen nicht selber verboten hat. Vielmehr hat er Kantone, Städte und Gemeinden ermächtigt, solche Veranstaltungen zu verbieten. Im Gegensatz zu heute wurde der Bundesrat 1918 nur selten selber aktiv. Die Bekämpfung der Pandemie wurde weitestgehend an die unteren Staatsebenen delegiert. Dennoch beteiligte sich der Bundesrat durch Beschluss vom 19. November 1918 zu 50 Prozent an den Kosten, die bei den Kantonen, Städten und Gemeinden durch die Pandemiebekämpfung anfielen. Hierzu gehörten Aufwendungen für die Errichtung von Notspitälern und die Verpflichtung von Pflegepersonal, aber auch für Entschädigungen von Personen, die aufgrund des Veranstaltungsverbotes «brotlos» geworden waren.

 

Indem die einzelnen Städte, Gemeinden und Kantone für die Massnahmen verantwortlich waren, kann man wie der Historiker Patrick Kury von einem «grotesken Flickenteppich» sprechen. Versammlungsverbote wurden an verschiedenen Orten erlassen, Schulschliessungen aber nur an sehr wenigen Orten wie im Kanton Freiburg. Krippen wurden allerdings zeitweise geschlossen und mussten dafür entschädigt werden. Diese Schliessungen waren eine Mehrbelastung für die arbeitende Bevölkerung. So hielt der Schweizerische Zentralkrippenverein fest: «Bei der Wiederöffnung zeigte es sich, wie sehr diese Anstalten der arbeitenden Klasse dienen». Eine Home-Office-Pflicht, wie wir sie heute kennen, war in der damaligen, nicht digitalisierten Welt schlicht unvorstellbar, und auch eine allgemeine Maskenpflicht gab es nicht. Das Gesundheitssystem war völlig überlastet, und überall mussten Notspitäler errichtet werden. So gab es allein im Grossraum Bern 2500 Notbetten für Grippekranke.

 

Nicht so allgegenwärtig

 

Die Spanische Grippe traf damals auf eine Schweiz, die von der Versorgungskrise während des Ersten Weltkriegs ausgelaugt war. Am stärksten betroffen waren Arbeiterinnen und Arbeiter in den Städten. Sie litten unter Inflation, mangelhafter Nahrungsversorgung, dadurch ausgelöster Mangelernährung, hoher Arbeitslast sowie der schlecht abgegoltenen Wehrpflicht. Die Versorgungslage war derart schlecht, dass es für die Grippeerkrankten in den Notspitälern keine Zusatzrationen gab, um sie zu stärken.

 

Vor diesem Hintergrund kam es im November 1918, auf dem Höhepunkt der Pandemie, zum Landesstreik. Statt auf die berechtigten Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter einzugehen, mobilisierte der Bundesrat die Armee. Die Soldaten zahlten für diese Entscheidung einen hohen Preis, da viele von ihnen der Spanischen Grippe erlagen. Insgesamt zählte die Armee mehr als 1800 Grippeopfer. Heute ist der Landesstreik im kollektiven Gedächtnis sehr viel präsenter als die Spanische Grippe, und das dürfte auch 1918 nicht anders gewesen sein. Aus den Quellen ist zu schliessen, dass die Spanische Grippe damals in Medien und Politik als Thema nicht so allgegenwärtig war, wie es Corona heute ist. Dies bestätigt ein Blick in damalige NZZ-Ausgaben oder die Sitzungsprotokolle des Schweizerischen Städteverbandes.

 

Überraschenderweise sucht man in diesen Sitzungsprotokollen von 1918 und 1919 sowie im damaligen Geschäftsbericht des Städteverbandes beinahe vergeblich nach Spuren der Spanischen Grippe. Unter den Traktanden der Sitzungen taucht sie nicht auf. Als einziger Hinweis auf die Grippe ist der Umstand zu deuten, dass der Städtetag «in Form einer rein geschäftlichen Tagung» stattfand. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, weshalb sich der Städteverband als Stimme der Städte auf Bundesebene nicht aktiv mit der Pandemie auseinandersetzte, so wie er das heute bei der Coronapandemie tut.

 

Hierfür gibt es zwei mögliche Antworten. Eine lautet, dass die nationale Politik nicht für die Grippebekämpfung zuständig war, sondern die Kantone, Städte und Gemeinden. Entsprechend brauchte es den Städteverband dafür nicht als Vertretung auf Bundesebene, da die Städte autonom Entscheide fällen konnten. Dies ist ein starker Kontrast zu heute, wo der Bund im Lead ist und die Städte und Gemeinden nicht einmal konsultiert. Die zweite mögliche Antwort ist, dass es drängendere soziale Probleme gab, mit denen sich der Städteverband beschäftigen musste.

 

Engagement für Lebensmittellieferungen

 

Das grösste Traktandum in sämtlichen konsultierten Sitzungsprotokollen aus den Jahren 1918 und 1919 sowie im Geschäftsbericht ist die Lebensmittelfürsorge. So war der SSV wesentlich an der Schaffung der Eidgenössischen Ernährungskommission 1918 beteiligt, in der er auch vertreten war. Der Städteverband verhandelte bis zum Waffenstilstand vom 11. November 1918 sogar aktiv mit den Entente-Mächten, um Lebensmittellieferungen in die hungernden Schweizer Städte zu ermöglichen. Nach Kriegsende lag die Priorität des SSV darauf, die völlig überteuerten Lebensmittelpreise zu senken. Ein weiteres drängendes Problem der Städte war eine akute Wohnungsnot, weshalb sich der SSV für die Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus engagierte.

 

Der Städteverband war während der letzten grossen Pandemie vor 102 Jahren also keinesfalls untätig. Anders als heute musste er sich damals aber nicht aktiv für die Berücksichtigung der Städte in der Pandemiebekämpfung einsetzen. Stattdessen engagierte er sich auf Bundesebene für die Bekämpfung der sozialen Not in den Städten, die 1918 derart gross war, dass es im November 1918, auf dem Höhepunkt der Pandemie und direkt nach Kriegsende, zum Landesstreik kam.

 

Quellen

 

«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt.

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