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Florence Germond: «Die Pandemie ist ein Beschleuniger für den Veloverkehr»

14. April 2021 – Die Stadt Lausanne hat, wie andere Westschweizer Städte auch, im Frühling 2020 auf den Strassen kurzfristig mehr Platz für Velofahrerinnen und Velofahrer geschaffen – meist anstelle von Parkplätzen. Primär ging es darum, ein durch Corona bedingtes Anschwellen des Autoverkehrs zu vermeiden. Das ist gelungen, und die Zahl der Velofahrerinnen und Velofahrer hat um 40 Prozent zugenommen. Aus den meisten Provisorien sollen definitive Velospuren werden, sagt Mobilitätsdirektorin Florence Germond im Gespräch.

Lausanne hat im Lockdown des Frühling 2020 auf seinem Strassennetz neue und breitere Velospuren markiert. Was gab den Anstoss zu dieser Idee, und wie viele Kilometer Velospuren haben Sie neu markiert?

Florence Germond: Die Pandemie hat bei der Mobilität in der Stadt dazu geführt, dass öffentliche Verkehrsmittel deutlich weniger genutzt werden. Im Juni 2020 war bei den Fahrgastzahlen der Lausanner Verkehrsbetriebe ein Rückgang um 50 Prozent festzustellen. Vor diesem Hintergrund befürchtete die Stadt Lausanne, dass sich die Mobilität ausschliesslich auf den Autoverkehr verlagert und es zu einer Überlastung des Strassennetzes und zu einem weiteren Anstieg der mit diesem Verkehrsmittel verbundenen Belastungen wie Lärm, Verkehrsunfälle und Luftverschmutzung kommen könnte. Aus diesem Grund wurden 7,5 Kilometer Velospuren zur Förderung der aktiven Mobilität eingerichtet.

 

Wie lange hat die Umsetzung der provisorischen Massnahmen gedauert?

Die Entscheidung wurde Mitte Mai getroffen. Ende Juni wurden die ersten Arbeiten durchgeführt, und fünf Monate später, im Oktober war dann die Umsetzung aller Massnahmen abgeschlossen.

 

Basierend auf welchen Vorschriften haben Sie diese Massnahmen angeordnet, und wie hat sich der Kanton dazu gestellt?

Der Kanton Waadt hat die Gemeinden aufgefordert, zusätzliche Radverkehrsanlagen auf der Grundlage der Signalisationsverordnung und insbesondere deren Artikel 107 Abs. 2 einzurichten, der Folgendes besagt: «Die Behörde oder das Bundesamt für Strassen kann Signale für örtliche Verkehrsanordnungen nach Absatz 1 vor der Veröffentlichung der Verfügung während höchstens 60 Tagen anbringen, wenn die Verkehrssicherheit dies erfordert.»

 

Was stand im Vordergrund? In einer Zeit, in welcher der Bundesrat davon abgeraten hat, den öffentlichen Verkehr zu benützen, mehr Raum für eine Fortbewegungsart zu schaffen, die individuell, aber dennoch flächeneffizient ist? Oder ging es darum, ein Zeitfenster mit generell wenig Verkehr zu nutzen, um alternative Verteilungen des Strassenraums auszuprobieren?

Der drohende Anstieg des Autoverkehrs nach der Lockerung des Lockdowns veranlasste die Stadtregierung dazu, schnell zu handeln und nicht die üblichen Konsultationen abzuwarten. Die ergriffenen Massnahmen zielten darauf ab, Alternativen zu den öffentlichen Verkehrsmitteln anzubieten und den Umstieg auf das Auto zu begrenzen, um übermässige Staus in der Stadt zu verhindern. Viele andere Städte in der Westschweiz und in Europa haben ähnliche Projekte umgesetzt. Die Priorität war klar: einem umweltfreundlichen Verkehrsmittel, das weniger öffentlichen Raum beansprucht, mehr sichere Flächen zur Verfügung zu stellen. Alle jetzt realisierten Veloverkehrsanlagen waren allerdings bereits im Vorfeld angedacht. Die Pandemie hat die Entwicklung nur beschleunigt.

 

Wie steht es um die damals eingeführten provisorischen Velospuren heute? Existieren sie noch? Wie viele davon bleiben auf Dauer? Welche rechtlichen Schritte sind für eine Verstetigung nötig?

Die Velospuren gibt es noch immer. Auf rund 100 Metern wurden kleinere Änderungen vorgenommen, um den Bedürfnissen des Gewerbes in einem Quartier zu entsprechen. Die Schritte für eine endgültige Genehmigung sind im Gange; bislang wurde eine Beschwerde gegen diese Radverkehrsanlagen eingereicht. Wir müssen jetzt den Ausgang dieses Verfahrens abwarten.

 

Auf wessen Kosten gingen die provisorischen Velospuren? Auf jene von Autofahrspuren oder von Parkplätzen? Und ergaben sich dadurch Kapazitätsprobleme für den Autoverkehr?

Die Velospuren wurden hauptsächlich auf Parkplätzen eingerichtet, einige auch auf ungenutzten Flächen oder durch eine Umnutzung von Abbiegespuren für Autos. Auswirkungen für den Verkehr ergaben sich nur in der Avenue de Provence, wo es zu längeren Autoschlangen kommt. Auch hier arbeiten wir an Lösungen, um das Problem zu beheben und gleichzeitig den Velostreifen beizubehalten.

 

Inwiefern haben sie die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner sowie die Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer in die Anordnung der Velowege einbezogen?

Aufgrund der Dringlichkeit war es uns nicht möglich, eine Vorkonsultation durchzuführen. Im Rahmen des Verfahrens zur endgültigen Genehmigung der Radverkehrsanlagen haben wir jedoch die vorgebrachten Anmerkungen berücksichtigt und mehrere Anpassungen an den Velospuren vorgenommen, um die verschiedenen Erwartungen so gut wie möglich zu erfüllen.

 

Gab es auch Opposition?

Es gab nur eine einzige Beschwerde des Automobil Clubs der Schweiz (ACS) und eines Gewerbevereins.

 

Welche Auswirkungen auf das Verkehrsverhalten hatten die provisorischen Velospuren? War der Veloanteil auch im Sommer höher als sonst, als viele Einschränkungen temporär aufgehoben waren?

In den letzten Jahren war in Lausanne eine Zunahme des Veloverkehrs um jährlich rund 20 Prozent zu verzeichnen. Die Beobachtungen unserer Verkehrszähler ergeben für 2020 im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2019 einen Anstieg um nahezu 40 Prozent. An einigen Orten fiel der Anstieg im Zeitraum von Juli bis September sogar noch höher aus (plus 57 Prozent).

 

Inwiefern haben die besseren Bedingungen für den Veloverkehr auch den Gütertransport per Velo stimuliert?

Dazu liegen uns keine Statistiken vor. Die Nachfrage steigt jedoch ständig. Die nach der Schliessung der Geschäfte weniger oft genutzten Miet-Lastenvelos wurden für Lebensmittellieferungen an Privatpersonen und für Transporte in die medizinischen Labors eingesetzt.

 

Nationalen Erhebungen lässt sich entnehmen, dass bis weit in den Herbst hinein mehr Menschen per Velo unterwegs waren als in früheren Jahren; dann aber setzte winterbedingt derselbe Rückgang ein wie in anderen Jahren. War das in Lausanne ebenfalls so?

Die festgestellten Schwankungen bei der Zahl der Velofahrer sind auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Die Corona-Krise führte zu einem Anstieg der Zahl von Velofahrenden. Das Wetter ist ein Faktor, der den Veloverkehr jeden Tag neu beeinflusst: In Wochen mit kaltem und nassem Wetter sind weniger Velofahrer unterwegs. Das ist auch in diesem Jahr der Fall. Verglichen mit denselben Zeiträumen im Vorjahr bei gleichen Witterungsverhältnissen ist für dieses Jahr jedoch ein Anstieg festzustellen. Einen Rückgang des Veloverkehrs im Winter gab es auch dieses Jahr, aber die Zahl der Velofahrenden ist insgesamt höher als im Vorjahr.

 

Wissen Sie etwas darüber, was für Menschen 2020 auf das Velo umgestiegen sind und welche durchschnittlichen Distanzen Sie zulegen?

Nein, im Moment liegen uns dazu keine Daten vor. Die Universität Lausanne (UNIL) führt gerade eine Studie durch, bei der die Wirkung der durchgeführten Massnahmen untersucht wird.

 

Wurden im Zug mit den zusätzlichen Velospuren auch zusätzliche Veloparkplätze geschaffen? Falls ja, auf welche Weise?

Die Stadt Lausanne erhöht regelmässig die Zahl der Veloparkplätze. 2020 stieg die Zahl der Abstellplätze um 420 auf nun 3810, was einem Zuwachs von 88 Prozent gegenüber 2016 entspricht. Es gab jedoch keine speziellen Massnahmen für die Einrichtung von Veloabstellplätzen im Zusammenhang mit der Pandemie, da wir unsere Mittel vorrangig für die Veloverkehrsanlagen eingesetzt haben. Dieses Thema werden wir 2021 verstärkt angehen.

 

Die Verkehrsbetriebe Lausanne haben ein kombiniertes Abonnement Metro/Bus/Velo geschaffen: Führt das zu einer kombinierten Mobilität von öffentlichem Verkehr und Velo?

Unseres Wissens nicht. Anscheinend werden die Ergänzungsmöglichkeiten Velo/Bus in Lausanne nur selten genutzt. Die Beobachtungen zeigen, dass Verkehrsteilnehmende, die das Velo nutzen, zumeist die ganze Wegstrecke bis zu ihrem Ziel mit diesem Verkehrsmittel zurücklegen. Die einzige Kombination, die gut funktioniert, ist die von Velo und Zug. In einigen Fällen beobachten wir auch eine stärkere Nutzung der U-Bahn-Linie M2 (beispielsweise in Ouchy von Menschen, die in der Stadt unten wohnen und oben arbeiten).

 

Haben in Lausanne in der Corona-Krise nur die Velofahrenden von provisorischen Massnahmen profitiert? Oder kamen auch die Fussgängerinnen und Fussgänger in den Genuss von mehr Platz?

Das stimmt, die Velofahrenden sind nicht die einzigen, die profitieren. Wir haben auch die Zahl der Aussenterrassen massiv erhöht (200 Terrassen mehr), um die Gastronomie zu unterstützen, und wir haben verkehrsberuhigte Zonen eingerichtet. Immer samstags während des Wochenmarktes wird ausserdem die Rue Centrale, eine Hauptverkehrsader der Stadt, zur Fussgängerzone, und die Quais d‘Ouchy sind nun Spaziergängern vorbehalten.

 

Just im Corona-Jahr 2020 hat die Stadt Lausanne einen Klimaplan ausgearbeitet, der auf eine klimaneutrale Mobilität im Jahr 2030 abzielt. Inwiefern hat die Corona-Krise die Ausarbeitung dieses Plans beeinflusst?

Die Stadt Lausanne ist sich der Dringlichkeit des Themas Klimawandel schon seit einigen Jahren bewusst und hatte bereits begonnen, an ihrem Klimaplan zu arbeiten. Die Entwicklung beeinflusste also nicht den mit dem Klimaplan verfolgten Grundgedanken, aber sicherlich die Art und Weise, wie er aufgenommen wurde, da sich immer mehr Menschen für eine Gesellschaft einsetzen, die gegenüber ihrer Umwelt aufmerksamer ist und respektvoller mit ihr umgeht.

 

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Florence Germond ist Finanz- und Mobilitätsdirektorin der Stadt Lausanne.

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