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Ariane Widmer Pham: «Die Krise als Ausgangspunkt für ein besseres Städtemodell»

28. April 2021 – Wohnung, Quartier, Nähe, weniger Verkehr, Beruhigung der Städte: all diese Werte haben durch die Pandemie wieder an Bedeutung gewonnen. Es gilt sie für die Gestaltung unserer Städte zu nutzen.

von Ariane Widmer Pham, kantonale Stadtplanerin in Genf

 

Die Gesundheitskrise und die langen Wochen des Lockdowns haben unsere Sicht auf die Stadt sowie auf das Leben und die Fortbewegung in der Stadt stark verändert. Sie haben den Anstoss dazu gegeben, Wohnraum und Quartiere unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten, mehr Möglichkeiten für ein Miteinander im öffentlichen Raum zu schaffen, Umweltfragen noch stärker Rechnung zu tragen, aber auch die Frage der Durchmischung in der Stadt verstärkt in den Fokus zu rücken. Es ist lange her, dass wir so viel Zeit bei uns zu Hause und in unserem Quartier verbracht haben. In dieser ungewohnten Situation, in der alles plötzlich zum Stillstand kam, haben sich die Bedürfnisse der Einwohnerinnen und Einwohner stark verändert. Viele Städte haben Strategien entwickelt oder Projekte vorangetrieben, denen sie zuvor keine Priorität eingeräumt hatten. Hier hat die Pandemie den Blick aufs Wesentliche gelenkt. Es galt, schnell zu handeln und mit begrenzten Mitteln zu versuchen, den Bedürfnissen der Einwohnerinnen und Einwohner gerecht zu werden.

 

Mehr Platz für Velos, mehr Leben auf den Strassen

 

Besonders eindrucksvoll war die Massnahme im öffentlichen Raum, die in Genf im Mai 2020 von Stadt und Kanton gemeinsam umgesetzt wurde. Hier hat Corona wie eine Triebfeder gewirkt. Auf Basis einer im Vorfeld durchgeführten Studie wurden in Rekordzeit vorläufige Radwege über 6 Kilometer Länge geschaffen. Die Kosten hierfür betrugen 300 000 Franken. Es wurden Markierungen angebracht und die Strecken wurden eigens für Velofahrer ausgewiesen und entsprechend beschildert. Die Velozählung hat einen Anstieg des Veloverkehrs um 22 Prozent ergeben. Bei einer bei den Nutzern durchgeführten Umfrage sprachen sich 80 Prozent der befragten Personen dafür aus, dass die neu geschaffenen Radwege dauerhaft bestehen bleiben sollten. Aufgrund der erzielten Ergebnisse wurde das Projekt mit dem Preis «Rue de L'Avenir 2020» ausgezeichnet.

 

Das Projekt fand auch Anklang bei den Fussgängerinnen und Fussgängern, die sich über mehr Platz und weniger Gedränge auf ihren Wegen freuten. Zur Unterstützung der Betreiber von Cafés und Restaurants wurden Parkplätze verstärkt zur Errichtung von Terrassen genutzt. Dadurch wurden die Strassen bunter und lebendiger.

 

Mehr Nähe

 

Neben den konkreten Massnahmen vor Ort – und im Sinne einer entsprechenden Ausrichtung künftiger Entwicklungen – wollte der Kanton auch die sozioökonomischen, die ökologischen und die die Raumentwicklung betreffenden Folgen der Gesundheitskrise besser verstehen. Zu diesem Zweck hat er 2020 eine Untersuchung zu den Auswirkungen der Pandemie auf unsere Gewohnheiten und unser Verhalten durchgeführt. Ein für die Stadtplanung besonders interessantes Ergebnis lieferte die Untersuchung im Zusammenhang mit dem Quartierleben. Durch die Arbeit im Homeoffice und die Anpassung des Konsumverhaltens und der Freizeitgestaltung ist der Mobilitätsbedarf gesunken. Der Wunsch, vermehrt lokal zu konsumieren, geht Hand in Hand mit einer Erweiterung des Angebots lokaler Dienstleistungen. 

 

Letztlich haben die Beobachtungen, die während der Gesundheitskrise gemacht wurden, sowie die dringende Notwendigkeit, die Herausforderungen des ökologischen Wandels zu bewältigen, die verschiedenen Überlegungen und laufenden Planungen zur Raum- und Stadtentwicklung beeinflusst und untermauert. Besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle die vorbereitenden Arbeiten, die in die Revision des Genfer kantonalen Richtplans und in die nächste Generation der französisch-waadtländisch-genferischen Agglomerationsprogramme einfliessen werden. Dem veränderten Kontext Rechnung zu tragen, bedeutet, eine neue Vision von der Entwicklung des der Grossregion Genf zu entwerfen, und genau daran wird aktuell gearbeitet. Der Kanton Genf richtet diese auch im Hinblick auf den sehr ehrgeizigen kantonalen Klimaplan neu aus. Bei diesen Arbeiten weichen bestimmte Elemente von der aktuellen Planung ab, und andere bekommen erheblich mehr Gewicht, wie etwa die Frage nach Ressourcen und nach dem Leben. Nach den Erlebnissen der letzten zwölf Monate stehen nun das Quartier und die Lebensqualität seiner Bewohnerinnen und Bewohner im Mittelpunkt der Massnahmen.

 

Quartier und Wohnung – die Schlüsselelemente in der Stadt

 

Ich wünsche mir vor allem, dass die Erprobung neuer Modelle sowie Innovationen, insbesondere im öffentlichen Raum, durch die Coronakrise nicht nur beschleunigt, sondern auch gefördert werden. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, die Strategien zur Neugestaltung des öffentlichen Raums, die schon so lange Teil unserer Planungen sind, unverzüglich umzusetzen. Ferner hat sie dazu geführt, dass die Kantone und Städte leicht umzusetzende und kostengünstige Massnahmen ergriffen haben. Ich hoffe, dass es ihnen gelingen wird, Massnahmen, die sich bewähren, beizubehalten und weiter auszubauen.

 

Jenseits der unmittelbaren Massnahmen hat die Gesundheitskrise meines Erachtens jedoch vor allem gezeigt, dass es bei der Stadtentwicklung eines Perspektivwechsels und eines neuen Ansatzes bedarf. Ich habe eingangs ja bereits darauf hingewiesen, dass sich die Erwartungen, die die Einwohnerinnen und Einwohner an ihr Lebensumfeld haben, verändert haben. Die Pandemie hat unmissverständlich gezeigt, dass eines der Schlüsselelemente heute die Wohnung und ihre unmittelbare Umgebung, also das Quartier, ist.

Sprechen wir zunächst über das Quartier als zentralen Ankerpunkt der Bewohnerinnen und Bewohner in der Stadt. In seinem Quartier kennt man die Nachbarn, den Gemüsehändler, den Schulhof, die Strassen, die Plätze und die Grünflächen. Je durchmischter ein Quartier ist, desto besser kann es den alltäglichen Bedürfnissen seiner Bewohnerinnen und Bewohner gerecht werden und desto mehr Nähe und sozialen Zusammenhalt bietet es. Das Quartier, das ist die „Stadt der Viertelstunde“ mit seinen Dienstleistungen, seinen Erholungsräumen und seinen Orten der Begegnung. Dieser Qualitätsanspruch ist bereits ein zentrales Anliegen zahlreicher Bürgerbewegungen.

 

Die Pandemie hat aber auch deutlich gemacht, wie wichtig Wohnqualität ist. Rein wirtschaftliche Erwägungen haben allzu oft dazu geführt, dass standardisierter, wenig flexibler und für den Lockdown, den wir erlebt haben, vollkommen ungeeigneter Wohnraum entstanden ist. Auch hier müssen höhere Anforderungen eine Konsequenz aus der Krise sein. Insbesondere sollte man den innovativen Konzepten der Wohnungsbaugenossenschaften folgen. Eine Wohnung mit Loggia, Räume, die sich für verschiedene Zwecke eignet, Gemeinschaftsräume im Gebäude oder auch Gemeinschaftsgärten – all dies sind Elemente, die das Leben und das Zusammenleben im Wohnhaus verbessern.

 

Die Stadt der kurzen Wege

 

Ein weiterer Punkt, der in den Monaten des Lockdowns deutlich geworden ist, ist die mit der Mobilität einhergehende Umweltbelastung. Da weitere Fahrten plötzlich deutlich eingeschränkt waren, wurde die Stadt der kurzen Wege zu unserer neuen, alltäglichen Realität. Wenn wir heute darauf hoffen, dass unsere Stadtzentren schnell wieder mit Geschäftigkeit und Leben gefüllt werden, müssen wir gleichzeitig jedoch auch in der Lage sein, den Effekt der Befriedung der Quartiere zu bewahren, die endlich von der unzumutbar hohen Verkehrslast befreit waren. In diesem Sinne ist Corona auch eine Erinnerung an die Gesundheitsgeschichte unserer Städte. Die Krise ist eine Aufforderung an uns, rasch Massnahmen zur Begrenzung der Umweltbelastung unserer Städte zu ergreifen. Denken wir nur an London in den sechziger Jahren: Damals verhängte die Stadt aufgrund der hohen Smogbelastung radikale Massnahmen in Form der Clean Air Acts, die einen Verzicht auf Kohle als Energiequelle zur Folge hatten.

 

Ein neues Stadtmodell: eine umfassende Durchmischung

 

In letzter Konsequenz bedeutet die Erfahrung mit der Coronakrise, dass wir unser Städtemodell überdenken müssen. Ich spreche hier nicht von der Idee der Stadt an sich, die durch ihre Beständigkeit und ihre Fähigkeit zur Schaffung von Gemeinschaft für mich nach wie vor eine der schönsten Erfindungen des Menschen ist. Aber wir müssen uns endlich von dem auf einer funktionalen Trennung beruhenden Stadtmodell lösen. Dieses Prinzip bestimmt seit mehr als einem Jahrhundert unsere Stadtplanung. An seine Stelle muss das Prinzip einer grösstmöglichen Durchmischung treten, und zwar bis in die Herzen der Quartiere und ihren Wohnraum hinein.

 

«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt (Abonnieren).

 

Ariane Widmer Pham ist kantonale Stadtplanerin in Genf

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