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Soziale Dienste Zürich: Flexible und innovative Krisenbewältigung

12. Mai 2021 – Wegen der Coronakrise beziehen in Zürich bis jetzt nicht mehr Menschen Sozialhilfe als sonst. Für viele Menschen funktioniert das vorgelagerte Sicherungssystem. Doch das soziale Gefüge hat auch Risse bekommen: Versteckte Armut und eine neue Unterschichtung sind in den Städten plötzlich sichtbar geworden. Die Notlage vieler Menschen wird sich in den kommenden Monaten noch weiter verschärfen. Die Sozialhilfe ist nicht nur wegen der finanziellen Unterstützung wichtiger denn je, sondern auch, damit unsere Klientinnen und Klienten tragende Zukunftsperspektiven erarbeiten können.

von Mirjam Schlup, Direktorin Soziale Dienste Stadt Zürich

 

Die Coronakrise ist der grösste wirtschaftliche Einschnitt seit dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch stellen wir bisher in der Stadt Zürich noch keinen Anstieg an Sozialhilfe-Fällen fest. Zwar hatten wir in den ersten Wochen des Lockdowns im Frühling 2020 deutlich mehr Anträge, aber schon im Mai hat sich die durchschnittliche Anzahl neuer Gesuche für Sozialhilfe wieder auf dem früheren Niveau eingependelt.

 

Vorgelagertes Sicherungssystem funktioniert

Grund dafür ist, dass der Bund, die Kantone und teilweise auch die Gemeinden ein nie dagewesenes Hilfsnetz aufgespannt haben, um die Unternehmen zu stützen und Menschen, sozial abzusichern. Wir erleben gerade auf eindrückliche Art und Weise, dass nur sehr wenige Menschen auf die Sozialhilfe zurückgreifen müssen, wenn die ihr vorgelagerten Systeme wirksam ausgestaltet sind. Die vorgelagerten Sicherungsmassnahmen sind aber zeitlich begrenzt. Wir gehen deshalb davon aus, dass viele Menschen, die zurzeit noch Unterstützung erhalten, früher oder später in eine existentielle Notlage kommen und Anrecht auf Sozialhilfe haben werden.

 

Versteckte Armut wurde sichtbar

Dennoch werden zahlreiche Menschen ihr Recht auf Sozialhilfe nicht geltend machen. Viele Menschen mit ausländischem Pass fürchten beim Bezug von Sozialhilfe um ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz. Die Auswirkungen der Verschärfungen im Ausländer/-innen und Integrationsgesetz (AIG) treten während der Covid-19-Krise besonders deutlich zu Tage.

 

Sans-Papiers haben kein Anrecht auf staatliche Unterstützung und sind seit jeher auf sich selbst gestellt. Und Asylsuchende sowie vorläufig Aufgenommene müssen grundsätzlich mit den weit tieferen Ansätzen der Asylfürsorge auskommen. Die Pandemie hat die Folgen dieser Lücken in der sozialen Grundsicherung verstärkt und die soziale Schicht, die sich in den letzten Jahren unterhalb des Existenzminimums entwickelt hat, vergrössert – und für alle sichtbar gemacht. Als Städte sind wir gefordert, für diese Personengruppen Lösungen zu finden.

 

Entstigmatisierung von Sozialhilfe

Es gibt auch Menschen, die den Gang zur Sozialhilfe als Niederlage empfinden. Das Bild der Sozialhilfe als Endstation entspricht aber keineswegs den Tatsachen. Die Sozialhilfe dient mehrheitlich dazu, vorübergehende Notlagen zu überbrücken – in den vergangenen Jahren wurden jeweils rund 60 Prozent der Sozialhilfebeziehenden in Zürich innerhalb eines Jahres wieder aus der Sozialhilfe abgelöst. Neben finanziellen Leistungen erhalten Sozialhilfebeziehende auch individuelle Beratung, um für sich tragende Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. Wir alle sind deshalb gefordert, der Stigmatisierung der Sozialhilfe entgegenzuwirken und die Bevölkerung über die Leistungen und den Nutzen dieses (existenzsichernden) Instruments aufzuklären.

 

Offene Türen und Schalter

Zürcherinnen und Zürcher können sich jederzeit für eine persönliche Beratung in einem der fünf städtischen Sozialzentren melden – unabhängig davon, ob sie Sozialhilfe beziehen. Der Zugang zu unseren Beratungsangeboten ist so niederschwellig wie möglich. Für uns war deshalb klar, dass die Türen und Schalter der Sozialzentren in Zürich auch während der Lockdowns offenbleiben sollten. Dies nicht nur, weil die Kommunikation über digitale Kanäle für manche Menschen herausfordernd ist, sondern auch, weil sich viele unserer Klientinnen und Klienten in Notlagen befinden und auf persönliche Kontakte angewiesen sind. Natürlich gilt dies auch in gewöhnlichen Zeiten – gerade in der momentan herausfordernden Zeit aber besonders.

 

Nah an der Lebenswelt unserer Klientinnen und Klienten

Gleichzeitig galt es während der ganzen Zeit, eng in Kontakt mit denjenigen Klientinnen und Klienten zu bleiben, die nicht in die Sozialzentren kommen wollten. Wir sind deshalb noch näher an ihre Lebenswelt gerückt. Die Sozialarbeitenden haben für die Beratung verschiedene Kanäle ausprobiert und ihre Handlungsspielräume mutig und selbstbewusst genutzt. Neben Spaziergängen mit Klientinnen und Klienten, Beratungsgesprächen auf Parkbänken oder Hausbesuchen haben wir Corona-bedingt viele Beratungsgespräche per Telefon und Video durchgeführt. Gerade junge Menschen waren sehr froh über diese Möglichkeit. Zwar ist und bleibt soziale Arbeit Beziehungsarbeit; dafür ist der persönliche Kontakt sehr wichtig. Die Nutzung von digitalen Kanälen kann aber auch eine Chance sein, da diese oft niederschwelliger sind als ein Anruf oder ein Besuch.

 

Leistungen digital beziehen

Unsere Klientinnen und Klienten und auch wir als Organisation konnten während des Lockdowns zudem von einigen erfolgreich umgesetzten Digitalisierungsschritten profitieren. Ende 2019 führten wir den Online-Antrag für wirtschaftliche Sozialhilfe ein. Dank dem Formular können Anträge für wirtschaftliche Sozialhilfe nicht nur Schritt für Schritt online ausgefüllt werden, sondern auch jederzeit von zu Hause aus eingereicht werden. Während des Lockdowns wurde diese Möglichkeit rege genutzt: Während vor Beginn der Pandemie durchschnittlich ca. 30 Anträge pro Monat verteilt auf alle Zentren elektronisch eingegangen sind, waren es während des Lockdowns im Frühjahr 2020 durchschnittlich rund 140 pro Monat. Ebenfalls konnten wir während des zweiten Lockdowns die Mütter- und Väterberatung sowie den Schreibdienst weiterhin offenhalten, indem wir kurzfristig auf Online-Terminbuchungen umstellten. So kam es vor Ort nicht zu Wartezeiten.

 

Zentrales Scanning

Letzten Sommer haben wir das zentrale Scanning eingeführt, was uns gerade im zweiten Lockdown enorm zugutekam. Trotz offener Schalter sind die Sozialzentren wegen der Homeoffice-Pflicht nur zu einem Minimum besetzt, sodass viele Mitarbeitende ihre Arbeiten von zuhause aus erledigen müssen. Mit dem zentralen Scanning haben wir die Verarbeitung von Fall-relevanten Rechnungen, Gutschriften und Dokumenten in den Sozialen Diensten digitalisiert – wir sprechen hier von über 5000 Dokumenten täglich. Während diese Unterlagen im ersten Lockdown noch händisch gescannt werden mussten, damit sie im Homeoffice bearbeitet werden konnten, erfolgt dies heute zentral. Die zuständigen Sozial- und Sachbearbeitenden erhalten die Dokumente direkt auf ihren Bildschirm. Wir haben aber auch kurzfristig unsere Prozesse umgestellt und beispielsweise Schnittstellen zu Partnerorganisationen digitalisiert.

 

Kurzfristiger Aufbau von Corona-Spezialleistungen

Zusätzlich haben wir neue Spezialangebote, die aufgrund der Coronakrise geschaffen wurden, umgesetzt und hierfür Ad-hoc-Teams zusammengestellt. Im Auftrag des Stadtrats haben die Sozialen Dienste Zürich innert kürzester Zeit zwei Finanzierungssysteme zur Unterstützung der Wirtschaft entwickelt: Mit der «Nothilfe für Selbstständigerwerbende und Kleinstunternehmende» erhielten Betroffene im Frühsommer 2020 (März-Juli) unbürokratische, schnelle Hilfe. Aktuell richten wir zudem im Rahmen des «Drei-Drittels-Modells» Mietzinsbeiträge an lokale Gewerbetreibende aus, die ihr Geschäft vorübergehend schliessen mussten oder deutlich weniger Umsatz erwirtschaften.

 

Zusammen mit Zürcher Gastronomiebetrieben haben wir im Dezember ausserdem die «Gemeinsamen Weihnachtstage» ins Leben gerufen: Während der Adventszeit öffneten verschiedene Restaurants, Bars und Klubs ihre Türen für Menschen, die isoliert am Rand der Gesellschaft leben – für ein vorweihnachtliches gemeinsames Essen trotz Pandemie, aber natürlich unter Einhaltung der Schutzmassnahmen. Mit diesen Corona-Spezialleistungen konnten wir einen Beitrag dazu leisten, Arbeitsplätze zu sichern und die sozialen Folgen der Pandemie abzufedern.

 

«Macher*innen-Energie» fördern

Unsere Organisation hat nicht nur grosse Digitalisierungsschritte gemacht. Wir haben auch gelernt, «Ballast» abzuwerfen: Wir haben die Chance während der Lockdowns genutzt, um Bestehendes zu hinterfragen und kurzfristig bestehende Strukturen und Prozesse zu vereinfachen. Ausserdem haben wir rasch und ohne Perfektionsanspruch neue Angebote kreiert und diese Schritt für Schritt optimiert. Dies war möglich, da viele unserer Mitarbeitenden eine hohe Veränderungsbereitschaft und einen grossen Innovationswillen haben. Mit den richtigen Rahmenbedingungen möchten wir die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden weiter stärken und ihre Selbstorganisation und «Macher*innen-Energie» fördern.

 

Grundsätzlich sind unsere Mitarbeitenden in hohem Masse engagiert, weil die Arbeit bei den Sozialen Diensten sinnstiftend ist – in den letzten Monaten vielleicht sogar noch stärker als zuvor. Gerade in Zeiten wie diesen dürfen wir stolz sein auf unseren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer Stadt! Die Pandemie hat soziale Herausforderungen zum Vorschein gebracht, die uns noch lange beschäftigen werden. Wir werden deshalb weiterhin für die ganze Bevölkerung da sein, unsere Türen offenhalten und unsere Angebote auf die verschiedenen Bedürfnisse zuschneiden.

 

«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt (Abonnieren).

 

Mirjam Schlup ist Direktorin Soziale Dienste in der Stadt Zürich

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