Bei der Sozialhilfe ist das Ende der Krise nicht absehbar – Erfahrungen aus dem Sozialdienst einer Kleinstadt
Von Stefan Bütikofer, Gemeinderat Soziales und Gesellschaft, Lyss BE
Wenn ich als zuständiger Gemeinderat unter der Rubrik «Nach Corona» über die Auswirkungen der Pandemie auf die Sozialdienste schreibe, so ist der Titel der Rubrik zumindest irreführend. Die Folgen der Pandemie waren, abgesehen von den Arbeitsbedingungen, verhältnismässig klein. Seit Anfang Jahr hat sich die Situation aber verändert, die Zahl der Neuanmeldungen steigt stetig. Es ist leider auch anzunehmen, dass dies noch eine Weile andauern wird. Bezogen auf die Sozialhilfe sind wir noch mitten in der Krise.
Direkte Auswirkungen auf die Arbeit der Sozialdienste
Selbstverständlich hatte die Corona-Krise auch bei uns in Lyss direkte Auswirkungen, welche unmittelbar spürbar wurden. Insbesondere war die Arbeit mit unseren Klientinnen und Klienten direkt betroffen: Während der ersten Welle waren keine Gespräche vor Ort möglich. Die Mitarbeitenden konnten Beratungen nur per Telefon von Zuhause aus durchführen. Mittlerweile finden diese wieder vor Ort statt. Homeoffice ist jedoch weiterhin Pflicht, soweit dies möglich ist: Maximal die Hälfte der Mitarbeitenden arbeitet momentan im Büro. Wir haben versucht, die Wochenpläne nach Möglichkeit immer gleich zu belassen, so dass trotz der aussergewöhnlichen Situation etwas Normalität einkehren kann. Trotzdem soll genügend Flexibilität vorhanden sein, um die Beratungen organisieren zu können.
Unser Sozialdienst arbeitet polyvalent, das heisst, dass sowohl die Sozialberatung wie auch der Kindes- und Erwachsenenschutz (KES) durch dieselbe Stelle vorgenommen wird. Es gab diesbezüglich Befürchtungen, dass die Fälle im KES-Bereich nach den Einschränkungen der ersten Welle stark ansteigen könnten. Zum Glück war dies nicht der Fall, die Zahlen bewegen sich auf einem ähnlichen Niveau wie im Vorjahr. (2019: 73 Abklärungen, 2020: 78 Abklärungen). Das heisst aber nicht, dass die Pandemie spurlos an den Familien vorbeigegangen wäre. Wir stellen etwa fest, dass die Beratungen in der Schulsozialarbeit zugenommen haben, insbesondere nach den Sommerferien im letzten Jahr. In dieser Zeit ist sonst in der Regel weniger Bedarf an Unterstützung vorhanden. Wir vermuten, dass auch hier die Krise zu mehr Spannungen innerhalb der Familien geführt hat.
Zu Beginn der Pandemie hatten wir nur wenige Neuanmeldungen von Klientinnen und Klienten. Die unterstützenden Massnahmen von Bund und Kanton sowie die Arbeitslosenversicherung haben einen Grossteil der Not abfedern können. Trotzdem stieg die Anzahl unterstützter Personen das erste Mal in den letzten Jahren wieder leicht an, von 773 Personen Ende 2019 auf 837 Ende 2020. Die Gründe für diesen Anstieg liegen zumindest zum Teil bei der Corona-Pandemie. Feststellbar waren Anmeldungen von Selbständigerwerbenden und von Personen, die erst kürzlich aus der Sozialhilfe abgelöst werden konnten. Hier griff kein anderes soziales Netz, weshalb diese Menschen direkt an uns gelangten.
Kontinuierlicher Anstieg der Neuanmeldungen seit Anfang Jahr
Seit Anfang 2021 steigen die Anmeldungen für die Sozialhilfe nun weiterhin an, wie wir das auch erwartet haben. So wurden von Januar bis April bereits 80 Dossiers neu eröffnet, gleichzeitig konnten ca. 60 geschlossen werden. Wir rechnen damit, dass der Höhepunkt der Entwicklung noch nicht erreicht ist und die Zahlen weiter steigen werden. Die Arbeitslosenquote stieg im Kanton Bern 2020 um 46,3% (Schweiz: 39,5%), und diese Steigerung wirkt sich nun verzögert auf die Sozialdienste aus. Wie lange dies noch anhalten wird, ist sehr schwierig abzuschätzen. Zu erwarten ist auch ein um zwei Jahre verzögerter Effekt, wenn ein Teil der Personen ausgesteuert wird, die während der Pandemie arbeitslos geworden waren. Auch andere Faktoren, wie zum Beispiel die Entwicklung der Wirtschaft, haben einen Einfluss auf die Anmeldungen auf den Sozialdiensten.
Wir überwachen die Situation momentan sehr genau, um rechtzeitig Massnahmen treffen zu können. Höhere Fallzahlen bedeuten etwa, dass es auch höhere Personalressourcen in der Sozialberatung braucht. Hier muss entsprechend frühzeitig geplant werden, damit die Pensen rechtzeitig erhöht bzw. neue Mitarbeitende eingestellt werden können. Sowohl für die Klient*innen wie auch für die Mitarbeitenden ist es wichtig, dass die Fallbelastung nicht zu hoch wird. So kann sichergestellt werden, dass die Qualität der Sozialberatung hochgehalten werden kann, indem die Sozialhilfebeziehenden weiterhin gut betreut werden und die Belastung für die Mitarbeitenden nicht zu hoch wird.
Ablösungen werden schwieriger
Ein weiterer Aspekt, der die Sozialdienste vermutlich noch länger beschäftigen wird, ist die Frage der Ablösung von der Sozialhilfe. In der Regel ist das dann möglich, wenn die Klientinnen und Klienten wieder eine Anstellung erhalten oder wenn eine andere Sozialversicherung zuständig wird. Das kann zum Beispiel die AHV sein, wenn das Rentenalter erreicht ist, oder die IV, wenn eine bleibende Arbeitsunfähigkeit diagnostiziert wird. Wir stellen fest, dass es für unsere Klient*Innen seit letztem Jahr schwieriger geworden ist, eine neue Stelle zu finden. Auch hier spielt vermutlich die Corona-Pandemie eine Rolle. Viele Betriebe blicken selbst in eine unsichere Zukunft und stellen deshalb weniger Leute ein. Dies hat zur Folge, dass unsere Sozialhilfebeziehenden länger auf Unterstützung angewiesen sind und entsprechend länger durch den Sozialdienst betreut werden müssen. Auch hier ist schwierig abzuschätzen, wie lange diese Situation noch anhalten wird. Es ist zu hoffen, dass sich die Wirtschaft rasch erholt und wieder neue Stellen geschaffen werden können. Dass das in allen Branchen der Fall sein wird, ist aber leider nicht anzunehmen. Gerade etwa im Tourismusbereich ist zu befürchten, dass die Folgen der Pandemie noch länger zu spüren sein werden.
Die Gesundheit der Sozialhilfebeziehenden leidet
Die ganze Situation ist für unsere Sozialhilfebeziehenden alles andere als einfach. Die sowieso schon spärlichen Kontakte sind weiter eingeschränkt, die Hoffnung auf eine baldige Verbesserung der eigenen Situation schwindet. Auch Angebote für die Arbeitsintegration mussten coronabedingt ausgesetzt oder sogar eingestellt werden. Die Aufgabe der Sozialarbeitenden ist es auch, hier zu unterstützen und Perspektiven aufzuzeigen, selbst wenn dies im Moment schwierig ist. Auch wenn nun weitere Öffnungen vorgenommen werden können und das Licht am Ende des Tunnels immer heller wird. Die Arbeit der Sozialdienste hat erst begonnen.
«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt (Abonnieren).
Stefan Bütikofer ist Gemeinderat soziales und Gesellschaft in Lyss BE