«Damit die Stadt nicht von der Landkarte verschwindet» - Zur Bedeutung des Openairs Frauenfeld für die Stadt Frauenfeld
Das Openair Frauenfeld kann nach 2020 auch 2021 nicht durchgeführt werden. Was bedeutet das für die Stadt und die Region Frauenfeld allgemein?
Anders Stokholm: Frauenfeld war in den letzten Jahren mehrmals Austragungsort von sehr grossen Anlässen wie etwa dem Eidgenössischen Schwinger- und Älplerfest, aber an regelmässigen, jährlichen Veranstaltungen gibt es nichts Vergleichbares zum Openair Frauenfeld. Immerhin kommen dafür 50'000 Musikbegeisterte für drei, vier Tage in unsere Kleinstadt mit 25'000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Dass dieser Grossanlass nun bereits zum zweiten Mal nicht stattfinden kann, ist äusserst bedauerlich und hat vielerlei Auswirkungen, sowohl materieller wie immaterieller Art.
Einerseits leiden viele Detaillisten, Dienstleistungsunternehmen, Zulieferer und Privatpersonen in Frauenfeld und der ganzen Region darunter, dass die grössten Aufträge des Jahres wegfallen, die ertragreichsten Tage nicht stattfinden. Das hat Auswirkungen auf die verschiedensten Bereiche. So sind beispielweise auch Sportvereine betroffen, die sich zu einem grossen Teil mit Helfereinsätzen am Openair finanzieren. Sogar die Stadt Frauenfeld verliert durch den Wegfall der Quellensteuer für die auftretenden MusikerInnen viel Geld.
Sie sprechen Auswirkungen immaterieller Art an: Was meinen Sie damit konkret?
Anders Stokholm: Dieser Verlust ist weniger messbar, aber auch beträchtlich. Bis vor etwa 20 Jahren assoziierten Schweizerinnen und Schweizer mit Frauenfeld vor allem Militär. Die heute 16- bis 30-Jährigen verbinden mit Frauenfeld hingegen HipHop und ein einzigartiges, friedliches Happening mit Gleichgesinnten – was aufgrund der vielen ausländischen Radio- und Fernsehübertragungen auch weit ausserhalb der Landesgrenzen so wahrgenommen wird. Fällt dies nun zum zweiten Mal weg, so gerät Frauenfeld auf der nationalen Kulturlandkarte in den Hintergrund.
Was kehrt die Stadt Frauenfeld vor, dass sie nicht von der nationalen Kulturlandkarte verschwindet?
Anders Stokholm: Kann die Stadt Frauenfeld etwas dagegen unternehmen, dass das grösste HipHop Festival Europas auch dieses Jahr nicht stattfindet? Natürlich nicht, aber wir können wie bisher eng mit den Veranstaltern zusammenarbeiten und Hilfe anbieten, wo es möglich ist. Dazu gehört, dass wir ein verkleinertes Festival im Spätsommer mitermöglichen.
Sie mussten nun zweimal die Planungen einstellen und konnten das Openair nicht durchführen. Planen Sie für das nächste Jahr die gleiche Veranstaltung wie vor der Pandemie? Gibt es Anpassungen oder aus welchen Gründen halten Sie am altbewährten Konzept fest?
René Götz: Konzeptionell halten wir am altbewährten Konzept fest, da es den Zeitgeist und die aktuellen Trends nach wie vor trifft und vereint. Es gibt jährliche Anpassungen und weitere Optimierungen, um das Gesamterlebnis weiter zu fördern.
Frage an Anders Stokholm: Inwiefern hat sich die Pandemie auf die Zusammenarbeit zwischen der Stadt und Veranstaltungsunternehmen, konkret auch mit Blick auf das Openair Frauenfeld, ausgewirkt?
Anders Stokholm: Wie in allen Lebensbereichen hätte sich auch in der Kultur niemand vor zwei Jahren vorstellen können, wie sehr wir durch die Pandemie in unserer bisherigen Lebensweise beeinträchtigt werden. Für die Zusammenarbeit zwischen der Stadt Frauenfeld und den veranstaltenden Unternehmen resultierte daraus ein grösseres Bewusstsein für die Wichtigkeit und Verletzlichkeit der Kultur und somit eine verstärkte Solidarität.
Da Ausfallentschädigungen und Kurzarbeit national und kantonal geregelt sind, sind die Auswirkungen der Pandemie auf städtische Förderstellen wahrscheinlich weniger gross. Die Stadt Frauenfeld hat – wie wohl alle Städte – versucht, möglichst tolerant und grosszügig zu sein, d.h. nicht auf die Einhaltung von Leistungsvereinbarungen zu pochen, sondern Beiträge unkompliziert zu gewähren und auszuzahlen, auch abgesagte Veranstaltungen zu unterstützen bzw. die daraus entstandenen Mehrkosten mitzutragen, etwa Künstlerinnen und Künstler durch vermehrte Ankäufe ihrer Werke zu unterstützen. Ausserdem haben wir kurzfristig einen «Fonds Covid-19» geschaffen, der allen Branchen, auch der Kultur und Vereinen, zur Verfügung steht.
Gibt es Erfahrungen, die auch nach der Pandemie nachwirken werden? Haben Sie insgesamt für den Kulturbereich ihre Förderstrategie überdacht?
Anders Stokholm: Ich vermute, dass wir die Nachwirkungen der Pandemie noch lange nicht abschätzen können, deshalb macht es auch noch keinen Sinn, die Förderstrategie jetzt schon neu anzudenken.
Wie haben Sie als Kulturunternehmer die kulturpolitischen Entwicklungen während der Pandemie miterlebt. Haben für Sie eingeführte Massnahmen wie die Möglichkeit für Transformationsprojekte ein Potenzial, für Grossevents aber auch für kleinere Aspekte in der Musikbranche?
René Götz: Es ist für uns als Kulturunternehmer die schwierigste Zeit schlechthin. Das Berufsausübungsverbot trifft uns wirtschaftlich sehr hart (die Ausfallentschädigungen decken nur einen Teil der aufgelaufenen Kosten und wurden auf dieses Jahr noch zusätzlich gedeckelt...). Wir wünschten uns fairere und national einheitliche Parameter für die Anwendung der Ausfallentschädigung, ohne kantonalen Auslegungsspielräume, die zum Beispiel das Deckeln von Entschädigungen oder tiefere Prozentsätze für Entschädigungen.
Ein Transformationsprojekt, um Publikum zurückzugewinnen, haben wir eingegeben. Wir transportieren mit dem „OAF MAG - digitales Magazin“ das Festival in den digitalen Raum (von der grünen Wiese ins Internet). Hier warten wir auf das Feedback des kantonalen Kulturamtes und zählen auf die Unterstützung der Behörden.
Welchen Handlungsbedarf von Seiten der Kulturförderung und der Kulturpolitik nach der Pandemie sehen Sie - konkret für das Jahr 2022 und mittelfristig?
René Götz: Die vielfältigen Kulturangebote und das soziale Miteinander mit Musik und Spass sind wichtige «Güter» in unserer Gesellschaft/für unser Zusammenleben, die es zu pflegen und zu fördern gilt. Die Anforderungen und gesetzlichen Auflagen werden jährlich immer höher (Pandemie, Terror, Umweltschutz etc.). Die Reserven der Veranstaltungsbranchen sind restlos aufgebraucht. Wir benötigen daher auch über die nächsten Jahre eine aktive Unterstützung durch die Kulturpolitik, z.B. durch Einführung eines Kulturfrankens pro Besucher (als degressive Anschubunterstützung über die nächsten 5 Jahre).
Wie würden Sie diese Frage beantworten? Was können hier die verschiedenen Staatsebenen leisten?
Anders Stokholm: Ich bin eher skeptisch gegenüber den national und kantonal stark ausgebauten Förderungen für Transformationsprojekte, die häufig an digitale Formate gekoppelt sind. Die meisten Kulturschaffenden und -vermittelnden wollen mit ihren Konzerten, Lesungen, Theateraufführungen ganz direkt das Publikum erreichen. Kultur lebt vom Miteinander, vom Austausch, von der Berührung. Von daher wirkt dieser von den Geldgebern inszenierte und an sich paradoxe Hype für Transformationsprojekte, fürs Ausweichen ins Netz, für digitale Veranstaltungen, für mich etwas hilflos, wie ein Symbol für unsere Ohnmacht gegenüber der Pandemie.
Den Handlungsbedarf für die Kulturpolitik sehe ich in erster Linie – wie in der Politik allgemein – zum einen darin, bei allen Massnahmen, auch den gesundheitspolitischen, die Verhältnismässigkeit zu wahren, zum anderen werden Bund, Kantone, Städte und Gemeinden in den nächsten Jahren mit guten Rahmenbedingungen und finanziellen Ressourcen dafür sorgen müssen, dass die Kultur in ihrer Vielfalt wieder aufblühen kann.
Gibt es eine Erfahrung im Umgang mit der Pandemiesituation, die Sie bereichert hat und die sich ihrer Meinung nach nachhaltig auf die Zusammenarbeit zwischen Partnern, auf die Organisations- und Planungspraxis oder auf der strategisch-visionären Ebene niederschlagen wird?
René Götz: Nein, im Gegenteil. Das Hauptproblem ist die Planungsunsicherheit. Grossveranstaltungen brauchen eine lange Vorlaufzeit, und entsprechend wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Behörden die Dauer der Pandemie-Massnahmen für Grossveranstaltungen langfristig national einheitlich geregelt hätten – auch wenn das heisst, dass wir längere Zeit nicht arbeiten können. Eine transparentere und nachvollziehbarere Planung hätten die Veranstalter weniger dem ohnehin grossen psychischen Stress ausgesetzt. Wichtig: Wir kritisieren die Massnahmen nicht und haben sie entsprechend immer unterstützt. Wir kritisieren das Krisenmanagement und die Krisenkommunikation.
Welche Bilanz ziehen Sie nach 14 Monaten im Banne von Covid-19 spezifisch für das Ressort Kultur?
Anders Stokholm: Auch wenn dank der zahlreichen Massnahmen des Bundesrates viel Elend in der Branche aufgefangen werden konnte, ist die Bilanz nach 14 Monaten Covid-19 verheerend, sowohl für die Kulturschaffenden und -vermittelnden wie auch fürs Publikum. Ein Grossteil der in der Kulturbranche Tätigen lebt täglich am Rande des Existenzminimums, nimmt dies aber in Kauf für die Freiheit und die Möglichkeit, seine Passion zu leben. Da diese an sich schon diffizile Lebensweise einfach für Monate abgestellt, verunmöglicht wurde, werden sich viele Betroffene in der nächsten Zeit nach Einkommen und Tätigkeiten umsehen, die krisensicher, oder zumindest weniger krisenanfällig sind. Das Publikum seinerseits ist zu grossen Teilen nach wie sehr zurückhaltend, sich mit fremden Leuten in einen Raum zu begeben, und wird sich auch in Zukunft noch mehr in den eigenen vier Wänden aufhalten.
Welche Zukunftsgedanken treiben Sie um, für das Openair Frauenfeld und dessen Bedeutung für die Stadt, aber auch allgemein für den Standort Frauenfeld?
Anders Stokholm: Was das Openair Frauenfeld und viele kleinere Veranstaltungen und Festivals in unserer Stadt angeht, hoffen wir, dass sie möglichst bald wieder stattfinden können, und zwar wie bisher: als friedliche, grossartige Happenings, wo sich die Menschen begegnen können, wie sie wollen. Wer meint, Kultur sei ein Luxus, den man sich in Krisenzeiten halt nicht leisten kann, verkennt deren Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhang und für die eigene Identität. Kultur bringt unterschiedlichste Menschentypen, -schichten und –herkünfte zusammen in gemeinsamer Feier und Genuss. Wo dies wegfällt, gewinnen zentrifugale Kräfte Oberhand. Ich scheue daher die Wortkombination der «neuen Normalität», weil sie missverstanden werden kann als Rechtfertigung für den Abschied von zentralen Errungenschaften und Werten. Zu diesen gehört das ungezwungene Zusammenkommen von vielen Menschen zum gemeinsamen Fest. Nicht nur Frauenfeld lebt davon.
«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt (Abonnieren).
Anders Stokholm (FDP) ist seit 2015 Stadtpräsident von Frauenfeld (links)
René Götz ist Geschäftsführer der First Event AG, seit 2004 Veranstalterin des Openair Frauenfeld. Die First Event AG ist eine Tochtergesellschaft von Live Nation und gehört zu den grössten Konzertveranstalterinnen in der Schweiz.