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Neue Perspektiven für die Integration trotz der Krise

23. Juni 2021 – Yverdon-les-Bains hat eine Reihe von Massnahmen eingeführt, um auch während der Covid-19-Krise die Beteiligung der gesamten Bevölkerung sicherzustellen. Für die Unterstützung der Migrationsbevölkerung waren besondere Herausforderungen zu bewältigen. Die Verbreitung von Informationen an die fremdsprachige Bevölkerung hat an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig mussten aufgrund der Einschränkung persönlicher Kontakte neue Kommunikationskanäle gefunden werden.

Katja Blanc, Integrationsbeauftragte in Yverdon-les-Bains

 

Im März 2020 beschloss die Stadtregierung von Yverdon-les-Bains, mit der Einführung der Aktion „Ville d’Yverdon solidaire“ etwas gegen die Auswirkungen der Gesundheitskrise und des Teil-Lockdowns zu unternehmen. Zunächst stellte die Stadtverwaltung für die vulnerablen Personen die Grundversorgung mit Lebensmitteln sicher. In einem zweiten Schritt wurde ein Kulturangebot entwickelt, zu dem unter anderem Online-Lesungen und die Website De ma fenêtre gehören. Zusätzlich hierzu wurde ein Unterstützungsfonds mit zweimal 500 000 CHF eingerichtet, um den natürlichen bzw. den juristischen Personen zu helfen, die die Förderkriterien des Kantons und des Bundes nicht oder nur teilweise erfüllen. Darüber hinaus hat die Stadtregierung die Aktion Assiettes solidaires gestartet, die es den Gastronomiebetrieben ermöglicht hat, Speisen zum Mitnehmen anzubieten, die von den Mitarbeitenden der Stadtverwaltung ausgeliefert und mit 10 Franken pro Gericht subventioniert wurden. Diese Initiative war ein grosser Erfolg: Die Bürgerinnen und Bürger von Yverdon konnten so in einer Zeit, in der die Freizeitangebote und sonstigen Aktivitäten stark eingeschränkt waren, bei sich zu Hause gutes Essen geniessen.

 

Vielfalt und Solidarität

Vor diesem speziellen Hintergrund ist die Unterstützung der ausländischen Bevölkerung zu sehen, die ebenfalls an die aussergewöhnliche, durch die Pandemie entstandene Situation angepasst wurde. Seit mehr als 40 Jahren wirken die Migrantinnen und Migranten mit Hilfe der Fachstelle Commission consultative Suisses-Immigrés und durch eine erfolgreiche Integration an der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bereicherung der Stadt mit. Einige von ihnen sind zwischenzeitlich sogar zu Säulen des lokalen Lebens geworden. Der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer (alle Altersgruppen zusammengenommen) an der Gesamtbevölkerung von Yverdon-les-Bains liegt bei 37%.

 

Trotz der Krise hatten die für die Integration zuständigen Akteurinnen und Akteure immer ein offenes Ohr und eine helfende Hand für die Migrantinnen und Migranten, die so ihre Anliegen teilen und Zuspruch finden konnten. Um während des Teil-Lockdowns im Frühjahr 2021 den Kontakt zu den Klientinnen und Klienten zu halten, war eine Telefonhotline eingerichtet worden, über die in mehreren Sprachen weiterhin informiert und die Zusammenarbeit fortgesetzt werden konnte. So entfielen zum Beispiel auf persönliche Gespräche am Telefon 126 Stunden.

 

Durch die Begrenzung der Personenzahl in Innenräumen wurde das gesellige Beisammensein massiv beeinträchtigt, da Ausgehen, Treffen im Freundeskreis und Familienzusammenkünfte nicht mehr möglich waren. Während dieser Zeit war der soziale Bereitschaftsdienst migr’info jedoch weiterhin erreichbar. In den geöffneten Geschäften wurde ein neues Plakat in mehreren Sprachen ausgehängt, um Kontakt zu halten, eine Anlaufstelle zu bieten und die Nutzerinnen und Nutzer auf Selbsthilfemassnahmen zu verweisen. Die Schutzmassnahmen wurden der fremdsprachigen Bevölkerung gut vermittelt, da die Integrationsbeauftragten und Partnerinstitutionen die Informationen übersetzt und umfassend verbreitet haben. Dies führte dazu, dass viele Migrantinnen und Migranten zu Hause blieben und sich nicht mehr trauten, ihre Wohnungen zu verlassen, um sich an den Integrationsmassnahmen zu beteiligen, obwohl diese in den meisten Fällen weitergeführt wurden. Die Befürchtung, Vorschriften nicht richtig verstanden zu haben und Fehler zu machen, sorgte für zusätzlichen Druck. Davon betroffen waren sogar Kinder, die eine Einrichtung zur vorschulischen Sozialisierung besuchen und dieses Betreuungsangebot nur noch unregelmässig nutzten.

 

Auf Bundesebene ordnete das Staatssekretariat für Migration (SEM) an, die Schulen, die Französischunterricht erteilen, während des Teil-Lockdowns im Frühjahr nicht zu schliessen, da sie als Orte der Grundversorgung betrachtet werden. Die notwendige Einhaltung der Abstandsregeln hatte jedoch zur Folge, dass sich die Zahl der in den Sprachkursen verfügbaren Plätze halbierte. Um die Teilnahme an den Kursen trotzdem zu ermöglichen, wurden manche Klassen geteilt und einige auf Online-Unterricht umgestellt. Die Entscheidung, diese Schulen offen zu halten, war für die fremdsprachige Zielgruppe im Grunde sehr positiv, angesichts der vielen Absenzen in dieser Zeit und der zahlreichen komplizierten Regeln stellt sich jedoch die Frage, ob die Kernbotschaft ausreichend kommuniziert wurde.

 

Die Integrations- und Selbsthilfemassnahmen ersetzen die Sozialhilfe

Wir kommen hier zu derselben Schlussfolgerung wie die anderen Städte: Die Bevölkerung engagierte sich und entwickelte durch die Stärkung der sozialen Beziehungen eine bürgerschaftliche Solidarität. Dennoch stieg der Bedarf an finanziellen Hilfen. In der aktuellen wirtschaftlichen Situation, in der vermehrt Entlassungen drohen, können schwierige Lebenssituationen entstehen, die einer Gesellschaft, deren Grundsatz es ist, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner respektiert werden, unwürdig sind.

 

Mit dem Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) haben sich 2005 die rechtlichen Rahmenbedingungen in diesem Bereich geändert. Das neue Gesetz besagt, dass bestimmte Aufenthaltstitel nur verlängert werden, wenn keine Sozialhilfe bezogen wird. Die Krise hat die Problematik dieser Vorschrift verdeutlicht, denn der Zugang zur Sozialhilfe ermöglicht es den betroffenen Menschen, in Würde zu leben und ihre finanzielle Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Sozialhilfe sollte nicht an die Aufenthaltsbewilligung gekoppelt sein. Aus dem Bericht der Caritas Waadt geht hervor, dass viele Menschen mit einer befristeten Aufenthaltsbewilligung keine Sozialhilfe beantragen, da die Inanspruchnahme des sogenannten Eingliederungseinkommens die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels gefährden würde. Dies ist selbst dann der Fall, wenn ihre Lebensverhältnisse aufgrund der Krise sehr prekär geworden sind.

 

Bei der Integrationspolitik hat die Verpflichtung, „alles zu unternehmen, um die Chancengleichheit beim Zugang zu den Sozialleistungen zu fördern“, nichts von ihrer Aktualität verloren. Die betroffenen Personen suchen immer häufiger Hilfe bei Vereinen, um den Kauf von Lebensmitteln zu finanzieren und um ihre Wohnung nicht zu verlieren. Diese Möglichkeiten der Sozialprävention werden unter anderem durch die Integrationsprogramme unterstützt. Personen, die keine staatlichen Hilfen erhalten, werden vorübergehend durch Integrationsmassnahmen oder durch private Vereine begleitet, die ihrerseits von der Gemeinde und vom Bund unterstützt werden.

 

Neue Perspektiven

Angesichts des social distancing mussten wir unsere Kommunikation anpassen und die Kommunikationsträger überarbeiten bzw. neu erstellen: weniger Flyer, dafür mehr Plakate, Newsletter sowie Informationen via Internet. Es genügt jedoch nicht, die Informationen einfach zu posten, sie müssen auch gelesen und verstanden werden. Um dies zu erreichen, wurden trotz der Einschränkungen vom SBFI geförderte Kurse angeboten, um die schriftliche Sprachkompetenz im Französischen sowie die IKT-Kenntnisse zu verbessern. Personen, die nicht über die notwendige Ausstattung verfügen oder nicht so gut mit den Geräten umgehen können, steht ein Cybercafé in einer Sprachschule zur Verfügung. Im Rahmen der obligatorischen Schulzeit unterstützen wir die Arbeit der Elternreferentinnen und -referenten, die es den fremdsprachigen Eltern ermöglicht, die neuen Regeln besser zu verstehen und dadurch ihre Kinder bei den Veränderungen zu unterstützen.

 

Es werden Projekte ins Leben gerufen, um die Offenheit der Einrichtungen für Vielfalt zu fördern und so allen die Möglichkeit für eine erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu eröffnen – trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten aufgrund der Krise. Das Programm der Femmes-Tische hilft, nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in den kommunalen Diensten und den Einrichtungen neue Kontakte herzustellen, und es fördert die Offenheit für Vielfalt. In Rahmen dieser Gesprächsrunden haben die Moderatorinnen und Moderatoren, die selbst einen Migrationshintergrund haben, Gelegenheit, ihr Wissen und bewährte Vorgehensweisen weiterzugeben. Sie organisieren Austausche zu aktuellen Themen wie beispielsweise zum Familienbudget, zur Rassismusprävention oder auch zur Möglichkeit, sich an den Gemeindewahlen zu beteiligen.

 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es durch die staatlichen Vorgaben für viele in der Schweiz lebende und arbeitende Menschen schwierig und teilweise unmöglich ist, einen gleichberechtigten Zugang zu Sozialleistungen zu erhalten, da die Anforderungen zu hoch oder zu kostenintensiv sind. Auch die Solidarität in der Bevölkerung und die Tatsache, dass sich die für die Integration zuständigen Akteurinnen und Akteure an die neuen Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten angepasst haben, vermochten das nicht zu ändern. Diese Erschwernisse auf institutioneller Ebene hindern die Migrantinnen und Migranten daran, ihre Kompetenzen in die Gesellschaft einzubringen und von dieser als vollwertige Bürgerinnen und Bürger anerkannt zu werden. In der Folge verlieren die Gemeinden durch die mangelnde Teilnahme der Migrantinnen und Migranten am Erwerbsleben wichtige Einnahmen.

 

Laut Edgar Morin „ist die Demokratie im Grunde  die Organisation der Vielfalt“.

 

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Katja Blanc ist Integrationsbeauftragte in Yverdon-les-Bains¨.

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