Städte sind systemrelevant, pragmatisch und nahe bei der Bevölkerung
Renate Amstutz, Direktorin des Schweizerischen Städteverbandes
Mit dem Ausbruch der Coronakrise vor eineinhalb Jahren ist das Schlagwort vom «globalen Dorf» relativiert worden. Die weltweiten Abhängigkeiten wurden uns schmerzlich bewusst; einerseits kennt ein Virus keine geografischen Grenzen, andererseits waren die Handelsketten unterbrochen. Mit einem Mal war lokal statt global Trumpf, und das Gebot, gegenüber unseren Mitmenschen Abstand zu halten, reduzierte unsere zwischenmenschlichen Kontakte und die Distanzen, die wir im Alltag zurücklegen. Mittlerweile, nach diesem verregneten Sommer, sind immerhin einige Dinge wieder wie vor dem März 2020, in dem das öffentliche Leben heruntergefahren wurde und die Perspektiven trotz zauberhaftem Frühlingswetter alles andere als heiter waren. Aber auch wenn die Zeichen auf Erholung stehen: Diese ist bis jetzt zaghaft, und die Unsicherheiten bleiben gross.
Die 15-Minuten-Stadt
Nicht nur, weil das unmittelbare Wohnumfeld kurzfristig an Bedeutung gewonnen hat, waren und sind die Städte von dieser Krise in besonderem Masse betroffen. Dabei hat sich gezeigt, dass das Postulat der kurzen Wege in vielen Schweizer Städten seit jeher Standard ist. Insofern ist in unserem Land vielerorts bereits umgesetzt, was europaweit unter dem eingängigen Begriff «15-Minuten-Stadt» propagiert wird: nämlich, dass der nächste Lebensmittelladen und was alles sonst noch zu einem lebendigen Quartierzentrum gehört, nicht mehr als eine Viertelstunde Geh- oder Velodistanz von zuhause entfernt sein sollte. Die Erfahrungen in der Pandemie machen deutlich, was es heisst, wenn die Stadt der kurzen Wege auf Dauer an Bedeutung gewinnen soll. Dann sind nicht nur nahe Läden gefragt, sondern auch attraktive Freiräume, die vor der Haustüre zum Verweilen und Bewegen einladen. Auf dem Bewusstsein, das in der Krise dafür geschaffen wurde, lässt sich aufbauen.
Anders verhält es sich mit den klassischen Stadtzentren: Sie waren und bleiben mit den Konsequenzen des massiv verstärkten Online-Schubs konfrontiert, der als Folge des Gebots, unter Menschen Distanz zu halten, sowohl die Arbeitswelt als auch den Detailhandel erfasst hat. Was heisst das für ihre Zukunft? Bleiben Teile der Büroflächen in den Zentren verwaist und Schaufenster von Läden verklebt? Müssen sich Stadtzentren neu erfinden? Ich bin zuversichtlich: Die Stärke der Städte liegt ja darin, dass sie immer wieder Wege gefunden haben, mit Veränderungen umzugehen. Hinzu kommt, dass sich allenfalls die Funktion von Büros verändert; verschwinden werden die klassischen, zentral gelegenen Arbeitsstätten nicht. Als Orte des bewussten zwischenmenschlichen Austauschs dürften sie noch bedeutender werden, denn wir haben auch die Grenzen der Digitalisierung erfahren. Stadtkerne sind die beliebtesten Bühnen für ein lebendige Miteinander, das zu jenen menschlichen Grundbedürfnissen gehört, die wir in der Pandemie am meisten vermisst haben.
Langfristige finanzielle Folgen für die Städte
Städte sind aber bekanntlich nicht nur Orte des Austauschs und der Arbeit, Städte sind auch Wohnorte. Insofern hatten und haben sie auch Schäden abzufedern, die vielen Menschen durch die Pandemie entstanden sind. Dieses Engagement reicht von der teilweisen Übernahme von Geschäftsmieten bis zu langfristigen wirtschaftlichen Folgen, die unter anderem auch dazu führen können, dass mehr Menschen zu Bezügerinnen und Bezügern von Sozialhilfe werden. Diese Perspektive bereitet mir Sorgen. «Die finanziellen Konsequenzen der Pandemie haben schwergewichtig und langfristig die Städte und Gemeinden zu tragen – weit mehr als die Kantone», so lautet die Erkenntnis einer Studie, die PwC Schweiz zusammen mit dem Städteverband im Frühling 2021 publiziert hat. Die Pandemie wird den Druck auf die städtischen Finanzen deutlich verstärken; denn auch andere Faktoren sorgen für düstere Aussichten, allen voran die Umsetzung der Steuerreform STAF, die 2020 in Kraft getreten ist. Gemäss einer Umfrage erwarten viele Städte einen Anstieg ihrer Verschuldung, etliche können gar eine Steuererhöhung nicht mehr ganz ausschliessen.
Respekt und Gelassenheit
Wirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen sind das eine, gesellschaftliche Entwicklungen etwas anderes. In der Krise konnten und können wir positive und negative Tendenzen beobachten. Nachdem anfangs eine grosse Solidarität, zum Beispiel unter Nachbarn, zu spüren war, griffen später Unmut und Gehässigkeiten um sich. Mittlerweile sind auch die politischen Diskussionen vergiftet, faktenfreie Polemiken haben Konjunktur. Polarisiert, polemisch, populistisch – die drei P begegnen einem auf Schritt und Tritt. Wir müssen darauf achten, dass wir den in einer Demokratie unabdingbaren Respekt vor Andersdenkenden nicht vollends verlieren und ihn, wo nötig, wiederherstellen. Einander in Anstand begegnen kann man auch, wenn man nicht einer Meinung ist. Unterschiedliche Ansichten gilt es auszuhalten.
Die Pandemie ist alles andere als harmlos, die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft sind zum Teil gravierend, persönliche Schicksale tragisch, und die Einschränkungen im täglichen Leben haben uns viel Geduld abverlangt und tun dies zum Teil immer noch. Trotzdem oder gerade deshalb: Mehr Gelassenheit, weniger Gereiztheit, muss die Parole der Stunde lauten. Im Gegensatz zur aufgeregten publizistischen und politischen Auseinandersetzung greift sie im Privaten bereits um sich: überall dort, wo sich Menschen über die Wiederkehr von physischen Treffen und direktem zwischenmenschlichem Austausch freuen.
Unbürokratische Unterstützung
Die Städte haben als Institutionen jener Staatsebene, die den direktesten Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern pflegt, in der Krise pragmatisch und innovativ nicht nur dafür gesorgt, dass die Grundversorgung von Mahlzeitendiensten bis zur Entsorgung der (deutlich grösseren) Abfallmengen aufrechterhalten werden konnte. Sie haben auch Gewerbetreibende und Kulturschaffende rasch und unbürokratisch unterstützt. Sie haben zusätzlichen öffentlichen Raum für Restaurants und Gartenwirtschaften zur Verfügung gestellt oder – oft auch in Zusammenarbeit mit privaten Partnern – Mietkosten übernommen, die beim Gewerbe ungeachtet seiner Einnahmenausfälle angefallen sind.
Damit haben sie dazu beigetragen, dass die Pandemie in der Schweiz weniger mittel- und langfristige Schäden angerichtet hat als anderswo – so wie ich es diesen Sommer in Italien erfahren habe, wo reihenweise geschlossene Restaurants, Hotels und leere Ladenlokale Bände sprechen. Last but not least waren die Städte auch Schauplätze verschiedener Formen von Unmutsäusserungen gegen die Restriktionen des öffentlichen Lebens – von Demonstrationen in grossen und kleinen Städten, die mittlerweile fast rituellen Charakter haben, bis zu den beiden Wochenenden, an denen sich in St. Gallen jugendliche Unrast entladen hat.
Ein zukunftsfähiger Föderalismus geht anders
Städte sind systemrelevant. Rücksicht auf ihre Betroffenheit und Gehör für ihr Wissen und ihre Erfahrung sind keine Bedrohung, sondern die Grundlage eines funktionierenden Föderalismus. Umso stossender ist es, dass der Bund auch über 20 Jahre nach der Verankerung von Artikel 50 der Bundesverfassung, der ihn zur Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und Agglomerationen verpflichtet, noch immer nicht verstanden zu haben scheint, was ein zukunftsfähiger Föderalismus bedeutet. Zum einen verzichtet er damit auf eine Antenne, die ihm frühzeitig Entwicklungen an der Basis vermittelt, zum anderen geht es nicht an, dass Städte die finanziellen und sozialen Folgen von Entscheidungen tragen müssen, zu denen sie nichts zu sagen hatten.
Die eidgenössischen Räte haben sich dagegen entschieden, die kommunale Ebene im Covid-19-Gesetz in den Kreis jener aufzunehmen, die systematisch in die Entscheidfindung der pandemiebedingten Massnahmen einbezogen werden. Gegen den beschlossenen Einbezug der Sozialpartner kann niemand etwas haben. Aber eine Staatsebene aussen vor zu lassen, das war und bleibt unhaltbar und kurzsichtig. Der Städteverband musste sich umso stärker punktuell engagieren. Beispielweise konnte er auf dem parlamentarischen Weg erreichen, dass sich der Bund trotz ablehnender Haltung des Bundesrats auch an den Verlusten des öffentlichen Ortsverkehrs beteiligte. Verluste notabene, die sich aus einer Gefahrenbeurteilung, aus Schutzkonzepten und einer Aufrechterhaltung des Angebots ergeben hat, die der Bund ohne Rücksprache mit den Städten verfügt hatte. Aufgrund dieser Erfahrung wird sich der Städteverband mehr denn je politisch dafür einsetzen, dass die kleinen und grossen Zentren und Agglomerationsgemeinden in jenem Masse in die Entscheidfindungen des Bundes und der Kantone einbezogen werden, das ihnen gebührt.
In unserer Serie «Nach Corona – Stimmen aus den Städten» haben die Mitglieder des Städteverbandes zahlreiche Facetten der Pandemie und ihrer Folgen und eine Vielzahl von Aktivitäten von Städten und Agglomerationsgemeinden aufgezeigt. Mit diesem Beitrag schliessen wir unsere Serie ab. Ich danke allen, die mit ihren Überlegungen zum vertieften Verständnis einzelner Aspekte beigetragen haben und so ermöglichen, eine Perspektive aufzuzeigen und zu lernen. Danke aber auch an alle, die geholfen haben und noch helfen, die Krise zu bewältigen: Behörden aller Staatsebenen, Bevölkerung, Wirtschaft und Wissenschaft.
Renate Amstutz ist Direktorin des Schweizerischen Städteverbandes