Auch wenn wir in aufgeregten Zeiten leben: Statistiken bringen eilige Aussagen zu vermuteten Entwicklungen immer wieder zurück auf den Boden. Während der Corona-Pandemie wurde das noch deutlicher als sonst, wie ausgewählte Beispiele aus Bern und anderen Schweizer Städten zeigen.
Thomas Holzer, Bereichsleiter Statistik der Stadt Bern
Es ist die Aufgabe der öffentlichen Statistik, zu gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Ereignissen Daten zu sammeln oder zu erheben und diese zu statistischen Informationen zu verdichten. Was die öffentliche Statistik genau darstellt, ist immer auch ein Abbild des Zeitgeschehens. Aufgrund der Corona-Pandemie stellen sich hier neue Herausforderungen. Mit statistischen Informationen soll nicht nur das Zeitgeschehen zahlenmässig dokumentiert werden. Vielmehr dienen sie Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als Grundlage für faktenbasierte Entscheidungen.
In Bezug auf die Corona-Pandemie denkt man hier natürlich in erster Linie an Fallzahlen zu neuen Ansteckungen, Hospitalisierungen und leider auch zu Todesfällen. Die Kurve mit exponentiell ansteigendem Wachstum und den verschiedenen Wellen hat sich ebenso in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt wie die verschieden farbigen Plakate der Sensibilisierungskampagne des Bundesamtes für Gesundheit und die Pressenkonferenzen des Bundesrates zur aktuellen Lage und den daraus abgeleiteten Massnahmen.
Fehlende Gesundheitsdaten auf städtischer Ebene
Die Städtestatistik kann hinsichtlich Neuansteckungen und Hospitalisierungen leider nicht viel aussagen, weil die sanitarischen Daten zur Corona-Pandemie in der föderalistischen Schweiz auf Kantonsebene gesammelt werden. In den meisten Kantonen werden sich nicht auf die Gemeinden aufgeschlüsselt, und somit liegen sie auch nicht für Städte vor. Im Kanton Bern wurden im Frühsommer 2020 kurzzeitig Daten über Neuansteckungen auf Gemeindeebene veröffentlicht, um die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass das Virus trotz damals sinkender Fallzahlen noch weit verbreitet war.
Im Oktober 2020, als die Fallzahlen wieder deutlich anstiegen, wurde damit aufgehört. Seit Anfang Juni 2021 betreibt der Kanton Bern eine Übersicht in Form eines Dashboards zu Corona-Kennzahlen. Dort werden neu wieder Daten auf Gemeindeebene veröffentlicht. Allerdings beschränkt sich dieses Angebot auf die 7-Tage-Inzidenz, und die Daten sind nicht rückwirkend verfügbar, man kann den Verlauf der Inzidenzen während der Pandemie also nicht nachbilden.
Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt – nimmt die Arbeitslosigkeit sprunghaft zu?
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie beschränken sich aber natürlich nicht nur auf die Gesundheit der Menschen, sondern betreffen zum Beispiel auch den Arbeitsmarkt, das Wanderungsverhalten der Bevölkerung oder die Entwicklung der Geburten. Hier kann die Städtestatistik durchaus Fakten liefern. Während dem ersten Lockdown im März 2020 stellte sich etwa die Frage, wie viele Beschäftigte und wie viele Firmen von den vom Bundesrat verordneten Schliessungen betroffen waren. In der Stadt Bern waren davon knapp 3000 Betriebe und 19'000 Personen tangiert, was rund 20 Prozent der Betriebe und 10 Prozent der Beschäftigten entspricht. Davon waren rund 540 Betriebe und 6500 Beschäftigte in der Gastronomie tätig, 700 Betriebe und etwas über 5000 Beschäftigte im Detailhandel und über 900 Betriebe und 5500 Beschäftigte in der Freizeit- und Unterhaltungsbranche (inklusive Kulturbetriebe). Diese Zahlen wurden übrigens in einer konzentrierten Aktion des Bundesamtes für Statistik und der Konferenz der regionalen statistischen Ämter der Schweiz (Korstat) berechnet. In der Korstat sind auch die grösseren Städte vertreten.
Mit diesen Betriebsschliessungen stellte sich die Frage, wie stark die Arbeitslosigkeit ansteigt. In der Stadt Bern stieg die Arbeitslosenquote in den Monaten März und April 2020, also während des ersten Lockdowns, um insgesamt knapp 1 Prozentpunkt an. Ende Februar betrug die Quote noch 2.6 Prozent, Ende April waren es 3.3 Prozent. Während das ganzen Jahres 2020 verharrte die monatliche Arbeitslosenquote dann auf höherem Niveau als in den Vorjahren, stieg aber nicht mehr stark an und lag immer zwischen 0.5 und 1 Prozentpunkt über den Vorjahreswerten.
Dass die Arbeitslosenquote nicht stärker anstieg, ist insbesondere dem Instrument der Kurzarbeit zu verdanken. Allein im März 2020 wurden in der Stadt Bern Gesuche für Kurzarbeit gestellt, von denen 50'000 Personen betroffen waren. Geholfen haben bestimmt auch die anderen wirtschaftlichen Massnahmen des Bundes wie die Covid-Kredite. Während der zweiten Welle im Herbst 2020 haben auch vermehrt Kantone und Städte wirtschaftliche Massnahmen ergriffen, um das Netz zu verstärken, das der Bund aufgespannt hatte. Die Stadt Bern beispielsweise entschädigt unter bestimmten Bedingungen Mietzinsausfälle oder bietet einen Härtefallbeitrag an.
Auswirkungen auf Wanderungsbewegungen – kommt es zu einer Stadtflucht?
Eine wichtige Aufgabe der Städtestatistik ist seit jeher die Beschreibung der Bevölkerungsentwicklung und mittlerweile auch ihrer Prognose. Natürlich hat die Corona-Pandemie diese Entwicklung beeinflusst. In der Stadt Bern haben die Wanderungsbewegungen gegenüber dem Ausland abgenommen. Im Jahr 2020 lagen ab März die Zahlen der Abwanderung von Personen ins Ausland immer unter dem tiefsten Wert der letzten fünf Jahre.
Eine noch stärkere Veränderung hat die Zahl der Zuzüge aus dem Ausland erfahren. Diese lag von April bis September 2020 jeden Monat ebenfalls deutlich unter dem tiefsten Wert der letzten fünf Jahre. Bei den Zuzügen in andere Gemeinden der Schweiz bewegen sich die Werte etwa auf zu erwartendem Niveau, während die Wegzüge in vielen Monaten sehr hohe Werte verzeichnen. Im Jahr 2021 hält diese Entwicklung bisher an.
Eine Besonderheit in der Stadt Bern sind die Diplomatinnen und Diplomaten, das diplomatische Personal und deren Familienmitglieder. In den Jahren vor der Corona-Pandemie hat sich ihre Zahl von Jahr zu Jahr kaum verändert. Im Jahr 2020 nahm sie aber um rund 10 Prozent (174 Personen) ab. Diese Abnahme betraf vor allem die Familienangehörigen, die es in der Krisensituation wohl vorzogen, in ihre Heimat zu gelangen. Sie führte per Saldo dazu, dass die Bevölkerung in der Stadt Bern entgegen den Prognosen 2020 leicht abnahm.
Offenbar sind nicht alle Städte gleichermassen betroffen. An der letzten Sitzung der Statistikkommission des Städteverbandes hat beispielsweise der Kollege aus der Stadt Zürich berichtet, dass man vor der Corona-Pandemie für 2020 ein Bevölkerungswachstum von 8000 Personen prognostiziert habe, letztlich aber eine leichte Bevölkerungsabnahme zu verzeichnen war. In Basel dagegen beobachtete man 2020 keine Auffälligkeiten und verzeichnete ein leichtes Bevölkerungswachstum, das sich im Rahmen der letzten Jahre bewegt hat. Und in Lausanne halten sich im Moment weniger Studierende in der Stadt auf als in den Vorjahren; zudem war starke Rückwanderung von Personen aus Portugal in ihre Heimat zu beobachten.
Kann man angesichts dieser Zahlen von einer Stadtflucht sprechen, wie sie etwa für Paris letzten Sommer kurzzeitig zu beobachten war und auch schon für Schweizer Städte kolportiert wurde? Aus meiner Sicht ist das nicht der Fall, dafür müsste innerhalb von kurzer Zeit eine Massenabwanderung stattfinden, was wir nirgends beobachten können. Es stellt sich eher die Frage, ob das Bevölkerungswachstum in den Schweizer Städten als Folge der Corona-Pandemie in den nächsten Jahren gedämpft wird. Hier wird wohl die weitere Entwicklung des Homeoffice eine wichtige Rolle spielen.
Auswirkungen auf die Geburtenzahl – erwartet uns ein neuer Babyboom?
Kontrovers diskutiert wird, inwiefern sich die Corona-Pandemie bzw. der Lockdown auf die Entwicklung der Geburten auswirkt. Tageszeitungen aus Bern und Zürich haben bereits das Wort «Babyboom» verwendet. In den Zahlen der monatlichen Geburten in der Stadt Bern ist ein solcher Boom aber nicht auszumachen. Die monatlichen Geburtenzahlen sind im Moment ziemlich volatil. Von November 2020 bis Januar sowie im März 2021 lagen sie ziemlich genau im Mittel der letzten fünf Jahre, im Februar und Mai deutlich darunter und im April deutlich darüber.
Auch in Zürich ist nicht ein sprunghafter Anstieg der Geburten zu beobachten. Diese Entwicklung erstaunt mich nicht. Der Lockdown ist nicht mit der klassischen Situation eines Stromausfalls zu vergleichen, der neun Monate später zu einem Bayboom führt. Es gibt verschiedene Argumente, die dagegensprechen, das wichtigste ist aber wohl die Verunsicherung und auch Zukunftsangst in der Krise. In Italien und Frankreich, beides Länder, die von Corona stark gebeutelt wurden, ist die Zahl der Geburten in den letzten Monaten das Jahres 2020 stark gesunken.
Kommunikation der Ergebnisse
Die öffentliche Statistik hat, wie eingangs erwähnt nicht nur die Aufgabe, statistische Daten und Informationen hinsichtlich der Corona-Pandemie herzustellen, sondern diese auch gegenüber den Behörden und der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Dabei können entweder die bestehenden Informationskanäle genutzt oder neue aufgebaut werden. Bei Statistik Stadt Bern haben wir uns in einer ersten Phase entschieden, bestehende Kanäle zu nutzen und die Informationen zu Corona in Form von Medienmitteilungen zu veröffentlichen.
Im Jahr 2020 wurden drei Medienmitteilungen zu wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie und eine zur Frage der Übersterblichkeit veröffentlicht. Während der zweiten Welle im Herbst 2020 haben wir angesichts der Fortdauer der Pandemie realisiert, dass ein eigenes Kommunikationsinstrument nötig wäre und deshalb Anfang 2021 ein Monitoring zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Stadt Bern aufgebaut, das monatlich aktualisiert wird.
«Nach Corona. Stimmen aus den Städten» erscheint jeden Mittwoch. Jede Woche äussern sich Exponentinnen und Exponenten aus Politik und Verwaltung sowie Fachpersonen, die für Städte oder zusammen mit Städten tätig sind, in der Textreihe «Nach Corona. Stimmen aus den Städten» dazu, was Schweizer Städte seit der Corona-Krise umtreibt (Abonnieren).
Thomas Holzer ist Bereichsleiter Statistik der Stadt Bern