Positionspapier des Schweizerischen Städteverbandes (19.12.2022)
Ausgangslage
Der Umgang mit Lärm fordert die Städte heraus. Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld: Die Städte wollen sich entwickeln, aber Lärmklagen blockieren viele Projekte. Sie wollen zudem die Bevölkerung schützen. Denn Lärm ist nicht nur lästig, sondern auch schlecht für die Gesundheit und für die Wirtschaft. Der Lärm muss an seiner Quelle bekämpft werden
Zentrale Forderungen
Die Städte brauchen einen neuen Umgang mit Lärm. Der Städteverband fordert:
- Der Strassenverkehrslärm ist die mit Abstand grösste Lärmquelle. Die einfachste, kostengünstigste und effizienteste Massnahme ist die Temporeduktion. Tempo 30 soll in den Städten zur Norm werden.
- Lärmvorsorge beim Planen und Bauen: Viele Projekte werden wegen Lärmeinsprachen blockiert. Damit werden städtische Innenentwicklungsprozesse (Sanierungen, Renovationen und Neubauten von Wohnsiedlungen) verzögert oder gestoppt. Die Städte benötigen eine Lösung, mit der Verdichtung und Lärmschutz möglich ist.
Das Problem: der Lärm
Der Lärm unterscheidet sich von anderen Geräuschen, weil er als gesundheitsschädigend oder - gefährdend eingestuft und von Menschen als störend wahrgenommen wird. Wissenschaft, Politik und Industrie legen entsprechend Grenzwerte fest, die Lärm definieren. Übersteigt der Lärm die Grenzwerte, müssen Massnahmen ergriffen werden – so sehen es Umweltschutzgesetz (USG) und Lärmschutzverordnung (LSV) vor.
Die Lärmdebatte akzentuiert sich, da Städte und Agglomerationen mit ihrer Siedlungsentwicklung nach innen wachsen. So sind nicht nur die Planungs- und Entwicklungsprozesse anzupassen, sondern auch der Umgang mit Lärm. Denn die Bevölkerungszunahme, veränderte Lebens- und Wohnansprüche und eine mobile 24-Stunden-Gesellschaft führen zu einem gesteigerten Bedarf an Wohnsiedlungen, Arbeitsplätzen, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeit- oder Gastronomieangebote. Dieser Bedarf generiert auch eine Mobilitätszunahme, die nach wie vor auf das Auto zentriert ist, das den grössten Teil des Lärms verursacht.
Die Herausforderung der Städte besteht darin, in diesem Umfeld eine lebendige, vielfältige und prosperierende Stadt voranzubringen und gleichzeitig die Menschen vor übermässigem Lärm zu schützen. Werden aktuelle Entwicklungen betrachtet, kann davon ausgegangen werden, dass der Handlungsbedarf für Lärmschutz in Kernstädten und Agglomerationen zunehmen wird.
Gesundheitliche und wirtschaftliche Auswirkung
Lärm ist nicht nur lästig, sondern macht auch krank. Dauernde Lärmbelastung erhöhen Herzfrequenz und Blutdruckwerte; das kann zu Herzkrankheiten führen.
- Lärm beeinträchtigt die Menge und die Qualität des Schlafes. Dies sorgt für chronische Ermüdungszustände, Nervosität, erhöhte Reizbarkeit und reduzierte Leistungsfähigkeit.
- Diese reduzierte Leistungsfähigkeit schadet der Produktivität und der Volkswirtschaft.
- Lärm führt zu Werteverlust von Immobilien.
Insgesamt betrugen im Jahr 2019 die durch Lärm verursachten externen Kosten 2,8 Mrd. Franken, wovon 80 Prozent (2,3 Mrd. Franken) auf den Strassenverkehr entfielen. (Quelle: BAFU)
Strassenlärm an der Quelle verhindern: Tempo 30 soll die Norm werden
Mit Abstand die grösste Lärmquelle ist der Strassenverkehr. Er verursacht 80 Prozent der lärmbedingten externen Kosten. Hauptleitragende ist die Bevölkerung in Städten und Agglomerationen: 90 Prozent der Betroffenen leben dort. Insgesamt sind 1,1 Millionen Menschen am Tag und 1 Million Menschen in der Nacht übermässigem Verkehrslärm ausgesetzt. Hauptverursacher ist der Strassenverkehr, gefolgt von Bahn- und Flugverkehrslärm.
Deshalb muss mit erster Priorität der Strassenverkehrslärm an der Quelle bekämpft werden: Tempo 30 steht auf allen Strassen im Siedlungsgebiet im Vordergrund, weil es...
- ...eine wirkungsvolle, kostengünstige und einfach umsetzbare Massnahme ist, namentlich im Vergleich zu baulichen Massnahmen.
- ...dem Verursacherprinzip entspricht.
- ...sich gut mit dem ÖV vereinbaren lässt
Auf Quartierstrassen ist die Massnahme weitestgehend akzeptiert. Seit 2018 anerkennt das Bundesgericht einzelfall- respektive strassenabschnittbezogene Anordnungen von Tempo 30 auf Hauptstrassen innerorts als mögliche Massnahme zur Reduktion von Strassenlärm (z.B. 1C_11/2017 Basel-Stadt).
Die im Jahr 2022 erschienene gemeinsame Studie des BAFU und der Stadt Zürich zeigt den erzielten Nutzen bei Tempo 30 auf die Lärmbelästigung und die Volkswirtschaft (Medienmitteilung der Stadt Zürich vom 27.04.2022). Vorher/Nachher-Messungen verweisen auf eine Reduktion von zwei Dezibel am Tag und vier Dezibel in der Nacht. Die tatsächliche und von der Bevölkerung wahrgenommene Strassenlärmbelästigung ging überproportional zurück. Eine Reduktion von Tempo 50 auf Tempo 30 bewirkt drei Dezibel weniger Schallpegel. Dies entspricht einer Halbierung des Verkehrs. Der Verkehr wird bei Tempo 30 flüssiger; lärmintensive Beschleunigungen werden seltener (Quellen: BAFU und lärm.ch).
Ab 1. Januar 2023 werden Städte Tempo 30 auf «nicht verkehrsorientierten» Strassen (Quartierstrassen) zumindest ohne Gutachten einführen können. Dieser Schritt wurde vom Städteverband schon lange gefordert (mehr Informationen).
Der Städteverband fordert, dass Tempo 30 in den Städten zur Norm wird. Eine mögliche Umsetzung ist die Anpassung der Verkehrsregelnverordnung.
Lärmvorsorge beim Planen und Bauen
Mit Tempo 30 können viele lärmgeplagte Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner entlastet werden, jedoch nicht alle. Die Siedlungsentwicklung nach innen führt zu baulicher und sozialer Dichte. Dazu kommen veränderte Lebensstile und eine neue Zusammensetzung der Bevölkerung. Erfahrungen zeigen, dass eine neue Durchmischung und Nutzungsintensivierung von öffentlichen Räumen besser akzeptiert werden, wenn der Lärm nicht zunimmt. Entsprechend sind bei Planungsprozessen und Bauprojekten die Lärmsituation und Grenzwerte früh und gezielt zu berücksichtigen. Verkehr, Siedlungs- und Aufenthaltsqualität, Mobilitäts-, Freizeit- und Ruhebedürfnisse sind aufeinander abzustimmen. Dafür braucht es Vorgaben, die eine stadtverträgliche Entwicklung ermöglichen.
Viele Projekte werden wegen Lärmeinsprachen blockiert: Neubauprojekte, aber auch viele Sanierungen, mit denen die Schallisolierung verbessert werden könnte. Der Grund: Das Bundesgericht hat die sogenannte «Lüftungsfensterpraxis» (1C_139/2015, 1C_140/2015, 1C_141/2015) für unzulässig erklärt. Somit dürfen bei keinem der geöffneten Fenster die LärmGrenzwerte überschritten werden. Nach der Lüftungsfensterpraxis wurden nur diejenigen Fenster zur Beurteilung hinzugezogen, die auch tatsächlich zur Lüftung der Räume geöffnet werden müssten. Die Folge der aktuellen Praxis: Gewisse lärmbelastete städtische Gebiete stehen noch stärker in einem Zielkonflikt zwischen dem Schutz vor Lärm und der von der Raumplanung geforderten Entwicklung nach innen.
Die Motion Flach (16.3529) will u.a. Ausnahmefälle bei der Lüftungsfensterpraxis als rechtlich zulässig definieren. Ihre 2018 vom Parlament angenommene und abgeänderte Form verlangt Anpassungen des USG und der LSV. Damit würden im urbanen Umfeld Innenentwicklungen eher möglich und der Schutz der Bevölkerung vor Lärm könnte angemessen berücksichtigt werden. Der Städteverband unterstützte die Gesetzesänderung zur Umsetzung in der Vernehmlassung (PDF-Download).
Die Städte fordern, zuerst Reduktion des Lärms an der Quelle, dann planerische und gestalterische Eingriffe – ohne dass es zu blinden Fassaden und städtebaulichen Verschlechterungen kommt. In einem nächsten Schritt könne Abstriche respektive eine neu angepasste Lüftungsfensterpraxis erfolgen. Darüber hinaus fordert der Städteverband:
- Kompensationsmassnahmen (ruhige Seite, Aussenraum) getroffen werden, damit eine gute Wohnqualität auch in lärmexponierten Wohnungen möglich ist und der Lärmschutz respektive die Gesundheit gewährleistet werden.
- Das Umweltschutzgesetz (USG) wird revidiert und soll das Problem aufnehmen.
- Der Lärm muss an der Quelle reduziert werden, damit die städtische Entwicklung vorangetrieben werden kann. Es braucht eine rechtliche Handhabe für Verdichtung, Neubauten sowie das Sanieren und Renovieren von (vor allem preisgünstigen) Gebäuden, ohne dass diese durch Lärmschutzargumente blockiert werden können.
- Es braucht unter anderem auch planerische und gestalterische Eingriffe
Forderungen des Städteverbandes
Der Städteverband fordert, dass seine oben genannten Anliegen in der Botschaft zum revidierte USG und den Verordnungsanpassungen berücksichtigt werden. Dies sind
- Reduktion des Lärms an der Quelle
- planerische und gestalterische Eingriffe
- Abstriche der empfindlichen Räume und eine Kompensation durch ruhige Aussenräume,
- Darlegung einer Ausnahmeregelung
- Einhaltung der Mindestqualität im Hochbau. Orientiert sich eine Bewilligungspraxis für Planen und Bauen in lärmbelasteten Gebieten in dieser Weise, lässt sich urbane Innenentwicklung mit einer klugen Umsetzung des Lärmschutzes vereinbaren.